Last updated on August 25, 2023
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Ein kühles Blondes
Die Nacht war durchwachsen, Ivan hat neben mir ziemlich viel in Bewegung gesetzt. Ich gönne es ihm, allerdings wirkt er auf mich die letzten Tage sehr verspannt, angespannt und die Situation mit Theresa scheint ihn zu belasten. Scheint ihn abzulenken von seinem eigentlichen Weg mit sich selbst. Zu sich selbst. Und scheint seinen eigenen mentalen Rucksack momentan schwerer als leichter werden zu lassen. Für mich, hier auf dem Jakobsweg, ein weiteres Zeichen, eine solche Reise mit sich selbst und zu sich selbst alleine zu bestreiten. Wenngleich man immer wieder neue Wegbegleiter trifft, „Leidensgenossen“ und Verbündete. Doch ich stelle seit Wochen fest, dass man den Weg nicht für andere läuft, nicht um anderen zu gefallen oder andere zu beeindrucken. Sondern um sich selbst besser kennenzulernen. Sich immer wieder in die eigene Gesellschaft zu begeben. In die eigenen, manchmal quälenden Gedanken. Sie mitzutragen, sie kommen und gehen zu lassen und einige von ihnen auch einfach auf dem Weg abzulegen. Sie zu hinterlassen. Ruhen zu lassen. Und sich selbst ein wenig mehr inneren Frieden zu geben. Den Arbeitsspeicher sozusagen aufzuräumen und mehr Platz zu haben, um den Moment, das Hier und Jetzt genießen und wertschätzen zu können.
Am Frühstückstisch sitzt uns ein Pilger gegenüber, der sich morgens um 8 das erste kühle Pils gönnt, Hut ab, ich müsste mich danach direkt wieder ins Bett legen und wäre nicht fähig, weiterzupilgern. Vor uns liegen heute 22km Wanderweg, seit über drei Wochen bin ich nun Tag für Tag unterwegs. Tag für Tag. Schritt für Schritt. Wir starten, es ist noch dunkel, der Weg führt durch eine kleine Gasse, treppauf. Vor uns ein Wegzeichen „Sarria“. Ein sehr wichtiger Wegpunkt, denn ab Sarria pilgern viele Menschen nach Santiago, denn diese ca. 120km sind Voraussetzung, um die begehrte Compostela, die Pilgerurkunde, zu ergattern. Der Nachweis dafür, dass man offiziell ein Pilger ist. Schöner Feldweg, entlang einiger Schienen, gefolgt von einem langen Aufstieg, langsam und schwerfällig bewege ich mich vorwärts. Und beschließe wieder einmal, für mich zu laufen. Allein zu sein. Mit mir selbst zu sein. Galizien ist eine wundervolle Gegend, vielfältig und schön anzusehen. dennoch fällt es mir heute besonders schwer, mich fortzubewegen und jeden Schritt zu machen. Körper, Geist und Seele sind müde. Schwerfällig und gleichzeitig friedlich. Kleine Dörfer, angeleinte Hunde, Kühe. Und oftmals sind die Orte menschenleer und einsam.
Wenn der Himmel weint
Bald treffe ich auf einen Pilger, der nur einen Plastikbeutel bei sich trägt. Minimalismus auf einem komplett neuen Level. Schöne Häuser in der EInöde – wie es sich wohl hier leben mag? Abgeschnitten von den großen Städten, dem Trubel, dem Lärm. Paradis oder Einöde? 11 Uhr, endlich die erste offene Bar – Zeit für einen Snack! Kaffee, Toast und ein wenig Ruhe. Serviert wird mir mein Frühstück von einer sehr jungen Dame, welche aus Versehen den Toast fallen lässt. Kein Problem, her das Zeug, ich bin hungrig und werde den trotzdem essen. Drei Sekunden Regel löst das schon. Und danach weiter des Weges. Und ein neues Zeichen voraus „100km“. Und ich kann es einfach nicht glauben. Ab jetzt lasse ich die dreistelligen Distanzen hinter mir. Santiago ist mehr als in Reichweite. Vor drei Wochen hätte ich nie im Traum auch nur daran geglaubt, es bis hierher schaffen zu können. Die mentale und physische Kraft aufbringen zu können, es bis an diesen Punkt zu schaffen. Ein absolut energetischer und toller Moment und ich bin voller Motivation und Freude.
Hier und da reifes Gemüse und saftige Felder in Sicht, Portomarin vor mir. Und endlich, nach über drei Wochen, Regen. Der erste Regen seit über drei Wochen! Galizien zeigt sich wirklich von seiner vielfältigsten Seite. Und während ich weiterpilgere, trabt neben mir eine Kuhherde vorbei. Und während dieses Treibens versuchen sich einige Kühe, die Zeit sinnvoll zu vertreiben und sich gegenseitig zu beglücken – FSK 18 auf dem Jakobsweg – wenig religiös, aber dennoch komisch anzuschauen.
Primero Dinero
ch erreiche Portomarin, mit der „Liberty Bell“ die vor den Toren der Stadt hängt. Und welche ich natürlich standesgemäß läute. Und mich über eine große Brücke in die Stadt begebe, auf der Suche nach einer Unterkunft. Und hier der erste Hammer an der Unterkunft. 50€ für ein kleines Einzelzimmer, in einer offiziellen Pilgerunterkunft. Ich frage mehrfach nach, ob dies seine Richtigkeit hat, der junge Mann am Empfang bejaht mehrfach. Ich entscheide mich, eine andere Unterkunft zu suchen und pilgere weiter. Und klopfe an der nächsten offiziellen Unterkunft. Eine ältere Dame öffnet die Tür und gibt mir zu verstehen, dass diese Unterkunft geschlossen sei und wir laufen gemeinsam den Weg entlang, in Richtung der ersten Unterkunft. Und ich stehe plötzlich dem verdutzten jungen Mann gegenüber, der sichtlich beschämt wirkt. Und mir zu verstehen gibt, dass dies tatsächlich die offizielle Unterkunft sei und ich nun ein Mehrbettzimmer für einen deutlich günstigeren Preis haben könne. Primero Dinero. Ich schaue ihn kurzzeitig mürrisch an, belasse es allerdings dabei, denn ich habe ein Bett, eine heiße Dusche und einen Platz zum Ruhen. Ivan stößt später hinzu und wir vertreiben uns die Zeit in der Stadt bei einem Croissant, einem kalten Bier und Gesprächen über Entscheidungen im Ärger, seinen Handykonsum auf dem Weg und das Annehmen von Gesten, ohne diese ausgleichen zu müssen oder wollen. Währenddessen weint der Himmel vor Freude und es prasseln herrlich dicke Regentropfen auf die Stadt herab, der Blick hinaus beruhigt mich.
Nach dem Gespräch mit Ivan überdenke ich die Situation in der ersten Pilgerunterkunft und stelle fest, dass ich vor einiger Zeit , ohne es zu wollen, dennoch die Unterkunft gezahlt hätte. Obwohl ich dies nicht wollte. Mich schlecht gefühlt hätte. Angenommen hätte, damit jemandem zu schaden oder durch das nicht Annehmen des „Angebotes“ automatisch abweisend wirke. Einfach aus der Angst heraus, nicht Nein sagen zu können, obwohl ich Nein sagen möchte. Denn was nützt es, Ja zu Dingen zu sagen, die uns nicht gerecht werden, die uns nicht zufrieden stellen, die unser Bauchgefühl durcheinander bringen und uns grübelnd zurücklassen. Die uns selbst in Frage stellt und wir im Nachhinein immer und immer wieder zu uns selbst sagen „Das hätte ich eigentlich anders machen müssen, anders machen wollen. Warum habe ich dennoch anders gehandelt?“
Diese kleine, unscheinbare Situation heute hat mir gezeigt, dass ich jedes Recht habe, Nein sagen zu dürfen und dies auch zu müssen, wenn mir eine Situation, eine Entscheidung oder eine Handlungsweise nicht passt. Wenn ich damit nicht einverstanden bin und eine andere Lösung, eine andere Option oder einen anderen Weg möchte. Und dies auch kommunizieren darf. Nachfragen darf. In Kommunikation treten darf. In Diskussion.
Für mich. Um meinetwillen. Und sich am Ende nur ein weiterer Weg, eine weitere Chance ergeben wird. Die im besten Falle eine bessere ist als zuvor…
Zusammenfassung Tag 23
Sarria – Portomarin
Entfernung: 22 km
Gesamtstrecke: 673,80 km
Höhenmeter aufwärts: 498 m ; Höhenmeter abwärts: 595 m
minimale Höhe: 345 m ; maximale Höhe: 665 m
Dauer: 5 h
Fazit des Tages
„Wenn dir etwas nicht gefällt, kannst du Nein sagen. Du musst nicht alles akzeptieren. Du darfst Dinge hinterfragen, verneinen und ihnen entgegentreten. Alles weitere wird sich auflösen“
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