Last updated on August 24, 2023
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Heiterkeit und Übelkeit
Nach einer ziemlich heißen Nacht für mich (ich habe direkt an der Heizung geschlafen und musste mitten in der Nacht das Bett wechseln, weil es einfach zu heiß war) heißt es für mich 7.45 Uhr raus aus den Federn, draußen ist es noch stockdunkel. Und der Nebel hat sich auch noch nicht wirklich verzogen. Egal – meine Laune kann das Wetter nicht trüben, ich bin ausgeschlafen und bereit für den Tag. Ich treffe mich mit Ivan zum Frühstück, Theresa ist allerdings nirgends zu sehen. Sie hat sich wohl, laut Ivan, letzte Nacht noch übergeben… Ein Schelm wer Böses denkt.
Wir starten nach einem guten Frühstück zu zweit auf unsere Tour. Theresa plant wohl heute eine sehr kurze Tour, weil sie sich körperlich nicht in der Lage fühlt und laut Ivan große Schmerzen hat. Wir treffen nach kurzem Weg auf Flo, Jack und den großen Felix, es folgt eine kurze Unterhaltung, danach sausen wir dem Dreiergespann davon. Es geht bergab, vorbei an kleinen Bauernhöfen und einigen freilaufenden Hunden. Einer der Hunde erinnert mich stark an meine Lieblingshündin Caillou aus Neuseeland (und Gott war die sauer als ich sie besucht habe, drei Tage lang hat die mich angezickt und angebellt, was mir einfällt, so lang wegzubleiben 🙂 ). Wir folgen dem Weg bald wieder bergauf, es folgt eine großartige Pilgerstatue. Ab hier entscheide ich mich auch, allein weiterzulaufen. Meine Laune ist viel zu gut, um sie von Ivans Gegrummel und mieser Stimmung kaputt machen zu lassen. Er ist viel zu sehr mit sich, Theresa und dem ganzen Dazwischen beschäftigt und wir kommen hier und jetzt einfach nicht wirklich zusammen. Dafür sind mir das Wetter, der Weg und die Reise viel zu wichtig. Wir sehen uns später wieder Kumpel 🙂
Es folgen kleine Dörfer, der Weg immer etwas bergauf, bald komme ich an einer kleinen Bar an. Mit prasselndem Kamin, frischem Orangensaft und einem wunderbaren Cafe. Ich genieße diese kleinen Auszeiten mittlerweile sehr. Sie gehören für mich zu meinem Weg. Sie geben mir Ruhe, Energie und lassen mich immer wieder über die letzten Kilometer nachdenken. Mein Blick schweift oft durch die Bar, ich beobachte die Menschen um mich herum, verfolge ihre Gespräche (weil ich ja auch richtig gut spanisch sprechen kann 🙂 ), beobachte ihre Gesichter. Und bin einfach für einige Momente Teil des Geschehens. Und gegen einen frischen Orangensaft nach einigen Kilometern kann man nun wirklich nichts einwenden – der haut einfach richtig rein!
Ivan kommt wenig später hinzu, verschüttet seinen Kaffee und ist immer noch voll von der Rolle – Mensch Junge, jetzt atme durch! Ich sehe Theresa am Fenster vorbeilaufen, offensichtlich in einem guten Tempo – die Schmerzen scheinen sich in Luft aufgelöst zu haben. Wir starten bald darauf und holen nach einigen Metern Marcel und Laura ein. Ab jetzt beginnt der spaßige Teil mit Musik, vielen Gesprächen und, zugegeben, auch einigen kleinen Lästereien (niemand ist frei von Fehlern, auch wir nicht…).
Das Großmaul
Der Weg führt nun immer bergab, Theresa ist uns mittlerweile weit voraus und wirkt, als ob sie von uns davonlaufen müsste. Der Nebel verdichtet sich nun immer mehr und zieht langsam an den Hängen nach oben, dazu Musik aus Marcels Box. Braveheart. Dazu dieses landschaftliche Spektakel. Was für eine Szenerie. In einem Comic würde nur ein Wort dazu stehen: Bäääääääääm! Und genau so kann man das stehen lassen.
Ich bekomme langsam Hunger und krame meine letzten Essensreserven aus meinem Rucksack, ein kleines Futterbackup hab ich immer dabei. Nach einer kurzen Pause inklusive Fotoshooting erreichen wir gegen 13 Uhr eine Bar in Ramil. Spiegeleier. Toast. Tortilla de Patata. Cafe. Schon wieder. Ich glaube manchmal könnte man meinen, wir sind eigentlich weniger auf der Suche nach uns selbst, sondern eher auf der Suche nach der nächsten Kneipe, der nächsten Bar, dem nächsten Cafe und futtern uns eigentlich nur so durch Spanien. Ganz abstreiten will und kann ich das auch nicht…
Die lange Pause tut sichtlich gut, der Großteil der Gruppe bricht kurz vor zwei Uhr auf, Ivan und Theresa bleiben allerdings sitzen. Also machen wir uns zu dritt auf den Weg. Mit Musik, guter Laune und guter Gesellschaft macht der Tag heute richtig Spaß. Grüne Wiesen, Kühe vor und neben uns. Bald ein Weg der straff bergauf führt. Inklusive kurzer Erfrischung an einer kleinen Wasserstelle. Marcel hat spürbar zu kämpfen heute, hat allerdings immer wieder eine große Klappe und nennt sich selbst ein „Großmaul“, dass allerdings auch liefern kann. Nach einem kleinen Missverständnis (er hat angenommen, dass es noch 25km bis zur nächsten Herberge sind, es waren vielleicht noch zehn 😉 ) bessert sich seine Laune allerdings spürbar. Es folgen immer wieder kleine Dörfer, der Weg immer leicht auf- und abwärts. Mal Straße. Mal Feldweg. Und Ivan hinter uns, der wie ein Wilder auf uns zuläuft und uns einholt. Und, wie sollte es anders sein, richtig miese Laune hat. Läuft bei dir heute sagenhaft Junge.
Ein Siegerfoto für Laura und Marcel in Sarria, denn hier haben sie vor 5 Jahren ihren Weg begonnen und ihn jetzt vollendet – Bravo! Wir suchen uns gegen 17 Uhr, wie sollte es anders sein, eine Bar. Auf einen Drink, Zum Wohl! Sarria ist übrigens ein beliebter Startpunkt für viele Pilger, denn die Strecke Sarria-Santiago ist die minimale Strecke (etwa 110km, zu schaffen in 5-6 Tagen) , die man zurücklegen muss, um die berühmte Compostela zu erhalten, das Pilgerdokument.
In bester Gesellschaft
Statt die Zeit mit uns zu genießen, hängt Ivan die ganze Zeit am Handy, wirkt sehr unzufrieden und genervt. Mit sich selbst. Mit der Situation. Und seinem Weg. Sex sells, wenn man seinen eigenen Weg verkauft. Klingt hart, ist allerdings so. Marcel, Laura und ich hingegen genießen die Musik, das kalte Bier und die Aussicht, bald in Santiago anzukommen. Ich kann es einfach nicht fassen, schon in Sarria zu sein. Ich fühle mich, als wäre ich erst gestern losgelaufen. Losgepilgert. Absolut unwissend, was vor mir liegt. Und was der Weg mit mir und aus mir machen wird. Ivan und ich machen usn auf den Weg in die Unterkunft, kein Host vor Ort, wir dürfen dennoch rein, zahlen später. In der Unterkunft selbst nur ein weiterer Pilger, wir richten uns unsere Betten ein.
Eine heiße Dusche später entscheide ich mich, für mich zu bleiben. Ivan ist heute einfach nicht in der Lage, aus seinem Kopfchaos auszusteigen. Also mache ich mich in die Stadt auf die Suche nach einem Abendessen. Allerdings bin auch ich heute nicht wirklich heiß darauf, mich in irgendein Restaurant oder eine Kneipe zu setzen. Also schnappe ich mir im nächsten Shop einfach Brot, Nudeln und Bier (denn die meisten Restaurants hier bieten kaum vegetarische Gerichte an und zu dieser Zeit war ich noch vegetarisch unterwegs – kaum zu glauben, aber wahr). Dank des sehr guten Mittagessens allerdings reicht mir mein karges Abendessen heute aus, no problemo.
Und hier, allein beim Abendessen stelle ich wieder fest, dass ich den Weg am Ende ganz allein für mich laufe. Ich habe ihn allein begonnen, ohne zu wissen, was kommt. Wer kommt. Wer geht. Am Ende werde ich ihn auch allein beenden. Ihn allein für mich gehen. Und wohl auch Menschen hinter mir lassen müssen…
Zusammenfassung Tag 22
O Cebreiro – Triacastela – San Xil – Sarria
Entfernung: 37,6 km
Gesamtstrecke: 651,8 km
Höhenmeter aufwärts: 678 m ; Höhenmeter abwärts: 1548 m
minimale Höhe: n.a. m ; maximale Höhe: n.a. m
Dauer: 8 h 35min
Fazit des Tages
„Wenn dir dein Weg nicht gefällt, dann ändere ihn und such‘ dir einen anderen Weg. Oder andere Begleitpersonen…“
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