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Tag 21 | Klare Erkenntnisse im dichten Nebel

Last updated on April 12, 2023

Geschätzte Lesedauer: 10 Minuten

Tiefer Schlaf und Turtelein

Nachdem ich mir am gestrigen Abend zwei große Teller mit Pasta und ausnahmsweise Wasser gegönnt habe, konnte ich die letzte Nacht schlafen wie ein Baby. Wieder. Nachdem ich die letzten drei Wochen oftmals mehr als schlecht geschlafen habe, ist das für mich wie eine neue Erfahrung. Kein Aufwachen mitten in der Nacht. Kein Herumwälzen. Kein „wann finde ich endlich die perfekte Position?“. Kein Grübeln nachts halb drei, ohne überhaupt damit etwas in Bewegung zu setzen außer den eigenen Gedankenapparat.
Grübeln fühlt sich für mich immer an wie Schaukeln – man ist zwar immer in Bewegung, aber so richtig vorwärts kommt man nicht, obwohl die Aussicht, je nach Energieaufwand, ziemlich großartig sein kann. Was kann man alles erblicken wenn man nur hoch genug schaukelt, Schwung holt, sich anstrengt. Was ist die Aussicht schön von meiner bequemen Schaukel aus. Nur den Absprung schafft man trotzdem nicht. Warum auch, ist ja sehr bequem hier auf der Schaukel. Und warum springen, könnte schief gehen, ich könnte mich verletzen, ich könne den bequemen Sitz verlieren, weil die Schaukel direkt neu besetzt wird… . Also weiter grübeln, den Gedankenbrowser vollhauen mit neuen Tabs, den Arbeitsspeicher mal so richtig auf Hochtouren bringen und schauen, wann das System überlastet.
Muss nicht sein oder? Schaukeln ist schön, Grübeln manchmal auch. Aber man kommt nicht vorwärts… Also runter von der Schaukel. Mit Schwung spart man sich unter Umständen den ein oder anderen Schritt…
Wie gesagt, diese Nacht war ich nicht schaukeln (also weder gedanklich noch richtig), allerdings haben die beiden Turrteltäubchen Ivan und Theresa recht viel getuschelt und offensichtlich einiges in Bewegung gesetzt…Anyway, aufstehen um 8 Uhr. Vier Toasts und zwei Kaffee später gehts für uns weiter auf dem Jakobsweg. Es warten viele Höhenmeter, viele Kilometer und einiges an Wolken auf uns. Buen Camino, Felix!

Licht am Ende des Tunnels

Der Tag auf dem Jakobsweg startet für uns gleich mehr als aufregend. Wir müssen einen Tunnel queren, der leider keinerlei Fußwege hat. Und mehrere hundert Meter lang ist. Also wagen wir uns mittenrein und halten Augen und Ohren offen, um nicht direkt vom nächsten Auto oder Laster überfahren zu werden. Um möglichst rechtzeitig ausweichen zu können, entscheiden wir uns, auf der „falschen“ Seite zu laufen, sodass wir uns entgegenkommende Fahrzeige rechtzeitig sehen können. Die Straße führt uns nun bald leicht abwärts und wir lassen den Tunnel hinter uns, ohne dass auch nur ein Auto zu sehen war. Die Wolken weichen bald besserem Wetter, neben uns große Felswände und beeindruckende Landschaft. Noch 180km bis zum „Ziel“ des Jakobsweges (denn die eigentliche Reise beginnt nach Aussagen vieler Pilger erst nach dem Jakobsweg) und für uns Zeit, die erste Pause einzulegen. Inklusive kleinem Frühstück – in Trabadelo. Aurelio war hier offensichtlich bereits vor zwei Tagen und bestätigt damit meine These – er muss der Teufel sein, so schnell wie der hier den Weg durchmarschiert (und ich denke mit einem kleinen Schmunzeln an ihn zurück und an das ständige monotone Klacken seiner Wanderstöcke 🙂 ).
Im Dorf selbst gibt es ein großes Sägewerk und überall finden sich kleine und große Holzstapel, es durftet herrlich. Wir treffen Laura und Marcel an einer kleinen Bar, hier machen wir den ersten Stop. Die Stimmung in der Bar wirkt sehr gedrückt, es gab wohl vor kurzem einen heftigen Streit, die Barfrau müht sich an einem großen Bierfaß ab. Theresa gesellt sich zu uns und ist wie am gestrigen Morgen grummelig und beschwert sich über viele Kleinigkeiten. Und beschließt, den weiteren Weg mit dem Taxi zurückzulegen (was für alle bei ihrer Laune die beste Entscheidung ist…).
Ivan und ich machen uns bald darauf wieder auf den Weg und treffen auf einen traurig und kuschelbedürftig wirkenden Hund – der von Ivan mit vielen Streicheleinheiten umsorgt wird. Der Weg vor uns belonhnt uns heute mit reichlich schönen Ausblicken, allerdings weiterhin ohne große An- oder Abstiege – das kommt aber bald…

Postkarten aus dem Wald

Wir folgen dem Weg, vorbei an Vega de Valcarce, Richtung Ambasmestas. Hier steht ene wunderschöne kleine Albergue an einem kleinen Teich. Die ist im Sommer bestimmt der absolute Renner und ich bin etwas traurig, dass wir hier keinen Halt machen werden (zumal die Albergue geschlossen ist). Vorbei an grünen Wiesen und einigen Menschen, die uns einen schönen Weg und einen guten Aufstieg wünschen. 13 Uhr erreichen wir Herrerias, Zeit für eine große Pause und einen Snack – Pommes, Eier, Kaffee – die Speise der Pilgerchampions. Laura und Marcel gesellen sich ebenfalls zu uns und wir genießen gemeinsam bei Musik die wirklich dringend nötige Pause vor dem Anstieg. Mein Fokus kehrt zurück, wieder einmal stelle ich fest, dass es beim täglichen Pilgern nicht nur darum geht, anzukommen. Es geht auch darum, den Weg zu genießen, die Momente der Ruhe schätzen zu lernen. Pausen einzulegen, wann immer sie notwendig sind. Und wann immer mir danach ist, mich entweder in Gesellschaft zu begeben oder allein (und nicht einsam) mit mir selbst sein zu können.

Kurz vor 14 Uhr machen wir uns auf die letzte Etappe, aufwärts und Richtung O Cebreiro. Die Straße führt uns erst steil nach oben, bald darauf folgen wir dem Weg in den Wald. Ruhig, einsam und wunderschön. Ivan rast mir davon, ich behalte mein Tempo bei, unser heutiges Ziel ist das Gleiche, kein Grund einen Sprint aus der Pilgerung zu machen. Umso mehr Zeit, die Ruhe und die Natur zu genießen. Mitten im Wald treffe ich auf einen Pilger, der an einem Baum sitzend Postkarten schreibt – Flo. Wir werden uns später noch einmal treffen. Der Weg wird langsam steiler, lässt sich dennoch angenehm pilgern. Schritt für Schritt erkämpfe ich mir Schweiß und hohen Puls.
Bald erreiche ich ein kleines Dorf, Kuh und Esel mustern mich. Statt den direkten Weg zu nehmen, entscheide ich mich für einen kleinen Umweg und kann mich so an der Kuh vorbeistehlen. Die Kuh baut sich später vor einem Pilger hinter mir wütend auf und ich gebe ihm zu verstehen, ebenfalls einen kleinen Umweg in Kauf zu nehmen, der ihn etwa 5 Minuten mehr kosten wird.

Vor verschlossenen Türen

Zu meinem Glück finde ich bald vor mir einen kleinen Brunnen mit frischem Quellwasser, Zeit für eine Abkühlung und eine kleine Pause. Bald entdecke ich eine abgebrannte Albergue, ein sehr trauriger Anblick. Denn sie stand an einem wirklich schönen Fleck, mitten im Wald. Die letzten Kilometer liegen vor mir und ich erreiche bald darauf Galizien, die letzte große Station meiner Pilgerreise auf dem Weg nach Santiago de Compostela. Ich werfe einen Blick zurück und mache mir wieder bewusst, dass bereits so viel Weg hinter mir liegt.
In O Cebreiro angekommen, bildet sich vor mir bereits dichter Nebel, ich kann einen letzten Blick auf das Tal werfen, bevor der Nebel alles für mein Auge unsichtbar macht. Es scheint fast so, als ob das Wetter bis zu meiner Ankunft gewartet hätte, um mir einen letzten Blick auf meinen zurückgelegten Weg zu schenken, bevor alles im Nebel verschwindet. Ivan wartet bereits an der Mauer auf mich, Laura und Marcel stoßen wenig später dazu. Wir stoßen mit einem Bier auf unseren Erfolg an, glücklich und geschafft.
Ich mache mich auf den Weg zu meiner Albergue, Ivan und Theresa entscheiden sich für ein gemeinsames Hotelzimmer. In der Albergue treffe ich Flo wieder. Er berichtet mir von einer Trennung, einer sehr schweren und traurigen Weihnachtszeit und seinen intensiven Erlebnissen auf dem Jakobsweg. Aufgrund seiner Spanischkenntnisse hat er natürlich auf dem Weg einen immensen Vorteil und er berichtet mir, dass er für Nataly aus Puente de la Reina ein Buch übersetzen möchte. Er erzählt mir außerdem, dass er Förster ist und nach Möglichkeiten sucht, ohne seine Brille arbeiten zu können. Flo wirkt auf mich sehr reflektiert, nachdenklich und offen.
Hier stelle ich wieder fest, dass der Weg für jeden einzigartig, besonders und bestimmt ist. Und dass ich für jede dieser Begegnungen sehr dankbar sind. Sie schärfen meinen Blick auf mich selbst, auf meine Situation, auf meine Sorgen und Probleme. Und sie geben mir Kraft, Motivation und Energie. Sie relativieren viele Probleme und Sorgen. Sie inspirieren, mich und mein Gegenüber. Sie helfen dabei, Leid zu verringern und Freude zu schenken. Und sie machen mir immer wieder bewusst, dass keiner auf dem Weg allein ist, dass jeder seinen Grund hat, zu pilgern. Und dass wir alle ein gemeinsames Ziel verfolgen – wir wollen weiterkommen und ankommen. Nicht nur in Santiago, sondern mit und bei uns selbst. Wir wollen uns selbst besser kennenlernen, uns verstehen und gemeinsam mit uns selbst den Weg beschreiten.

Draußen ist nun alles voller Nebel, keine fünf Meter weit kann ich sehen. Mein Blick allerdings ist geschärft und klar. Meine Gedanken heute sehr geordnet und sortiert. Ich empfinde heute mitten im Nebel eine große Dankbarkeit und Freude für Dinge, die mich umgeben, die mich begleiten und die mich ausmachen. Meine Freunde, meine Familie, meine (aus heutiger Sicht) damalige Freundin. Die Geduld vieler, die Herzlichkeit, die Gastfreundschaft, die Liebe und die vielen kleinen und großen Gesten des sich gegenseitigen Schätzens. All diese Gedanken ploppen nach und nach in meinem Kopf auf und erfüllen mich mit einer ungewohnt angenehmen Ruhe und Dankbarkeit. Und sorgen in meinem Kopf für Ordnung im Chaos, für Ruhe in meinen Gedanken und für einen entlasteten Arbeitsspeicher in meinem System – mitten im Nebel kann ich die ersten wirklich spürbaren Effekte des Jakobsweges erkennen.
Und muss an einen guten Freund denken, mit dem ich mich noch sehr oft über das schwere Thema der Depression unterhalten werde. Und wie wir, als ebenfalls Betroffene, die eigene Depression empfinden. Sie fühlt sich manchmal an wie ein dichter Nebel. Wir sehen keinen Weg. Keine Möglichkeit, voranzukommen. Zu entkommen. Es wird immer dunkler und unklarer. Wir wissen nicht, wohin. Wir haben Angst, den falschen Weg zu gehen. Also bleiben wir stehen. Verzweifeln nach und nach an der Ungewissheit, wann der Nebel vorbeizieht. Und wir wissen, dass hinter der dichten Nebelwand viele schöne Dinge und Aussichten auf uns warten. Dass es wahrscheinlich außerhalb des Nebels angenehm warm, vielleicht sogar sonnig ist. Aber wir haben keine Kraft, die ersten Schritte zu gehen. Und werden nass. Frieren. Verlieren Kraft und Hoffnung. Ermüden. Und geben die Hoffnung auf besseres Wetter bald auf.
Und eben hier, mitten im echten Nebel, mitten in der Dunkelheit, der Ungewissheit und der fehlenden Aussicht wird mir bewusst, dass ich den einzig richtigen Schritt, die einzig richtige Entscheidung, aus dem Nebel zu entkommen, bereits vor Wochen gemacht habe. Ich bin nicht stehen geblieben und habe abgewartet. Ich bin durch den Nebel gegangen, ins Ungewisse. Ins Unbekannte. Ins Risiko. Mitten durch den Nebel hindurch. Ohne zu wissen was dahinter auf mich wartet. Aber ich wollte selbst nicht länger warten, müde und schwach. Ich wollte wissen, was hinter dem Nebel liegt. Und hier, mitten auf den Jakobsweg kann ich sagen, dass die Welt hinter dem Nebel wunderschön, überraschend, herausfordernd, heilend sein kann.

Den Abend verbringen wir gemeinsam in einer kleinen Bar bei Wein und einer heißen Suppe. Ich unterhalte mich angeregt mir Laura und Marcel, ich schließe die beiden mittlerweile in mein Herz. Marcel fragt mich, ob ich nicht lieber von Malaga aus zurück nach Deutschland fliegen möchte und mit den beiden nach dem Jakobsweg noch ein paar Tage bei ihnen verbringen mag. Allerdings habe ich mich bereits vor einigen Tagen dazu entschieden, bis an die Westküste zu laufen – daher werden sich unsere Wege in Santiago trennen. Ivan gesellt sich bald zu uns, in sich gekehrt und überraschend ruhig. Offensichtlich kann er seine Liason mit Theresa nicht so ohne weiteres verbergen und wegstecken. Als Theresa hinzukommt. schweigen sich beide an und fixieren ihr Smartphone – ein sehr trauriger Anblick und ein Ivan, wie ich ihn vorher noch nicht gesehen habe.
Wir vereinbaren für morgen Sarria als Zielort, Marcel „segnet“ uns, bevor er sich verabschiedet. Als ich an meiner Albergue ankomme, sind alle Türen verschlossen, alles ist dunkel (und draußen übrigens immer noch alles voller Nebel). Ich suche verzweifelt nach einer Idee, in mein Zimmer zu gelangen. Nützt nichts, ich klopfe bald wie wild an die Fenster. Glücklicherweise ist Flo noch wach und öffnet mir die Tür – Glück gehabt. Aus dem Nebel direkt ins Bett 🙂

Zusammenfassung Tag 21

Villafrance del Bierzo – Las Herrerías – O Cebreiro
Entfernung: 28,4 km
Gesamtstrecke: 614,2 km
Höhenmeter aufwärts: 1151 m ; Höhenmeter abwärts: 403 m
minimale Höhe: 494 m ; maximale Höhe: 1298 m
Dauer: 6h 50min


Fazit des Tages
 „From feet to heart – dankbar sein für das, was ist

Published inJakobsweg - Camino Frances

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Camino - auf dem Jakobsweg
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