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Tag 25 | Die Erkenntnis der Dankbarkeit

Last updated on August 28, 2023

Geschätzte Lesedauer: 7 Minuten

Geschichten des Weges

Ich bin müde. Nicht wirklich motiviert, weiterzugehen. Einfach kaputt und fertig. Ich möchte meinen Weg langsamer angehen, noch langsamer als ohnehin schon. Geplant sind noch zwei Tage bis Santiago, was machbar erscheint nach den letzten Wochen. Ich habe viel geschafft. Viel Weg hinter mir gelassen. Viel von mir selbst hinter mir gelassen. Viele Gedanken, Emotionen und Erinnerungen immer und immer wieder durchdacht, gefühlt und manche davon auf dem Weg liegen gelassen. Manchmal ruhig und ohne große Zeremonie, manche mit viel Tränen und Schmerzen. Und das scheint auch ein Teil des Weges zu sein. Die Emotionen und Gedanken kommen und gehen zu lassen, ohne sie zu unterdrücken oder sich ihnen entgegensetzen zu wollen. Sie einfach sein zu lassen. Sie zu erleben. Sie zu „genießen“, wenn das hierfür ein richtiges Wort ist. Sie wahrhaftig anzunehmen und zu fühlen, greifbar und real werden zu lassen. Ihnen Raum zu geben. Und sich selbst damit die Chance zu geben, loslassen zu können.
Nach dem Frühstück treffen wir auf einen deutschen Pilger mit Hund, der den Weg in die andere Richtung läuft und gerade erst begonnen hat. Er berichtet uns, dass er vor einem Jahr einen Unfall hatte, bei dem er einen Teil seines Ohres verloren hat und sein weißer Husky bei dem Unfall von einem Truck überfahren wurde. Ich lausche seiner Geschichte und teile die Tränen und den Schmerz mit ihm, er wirkt innerlich sehr leer und möchte auf dem Weg seinen Frieden mit seinen Erlebnissen und seinem neuen tierischen Partner finden. Loslassen und Annehmen. Und wir verabschieden uns bald darauf wieder und wünschen uns einen Buen Camino.


Wir brechen auf in die Wolken, wieder einmal aufwärts und abwärts. Heute pilgern wir schweigend nebeneinander her und es sind lediglich die dicken Regentropfen zu hören, die auf uns niederprasseln. Einsame Dörfer, dichter Nebel, Brücken und viel Natur. Trotz der grauen Kulisse kann ich die Natur und die Umgebung um mich herum trotz der Knieschmerzen genießen.

Der Weg der Seele

Ivan und ich trennen uns kurz darauf, ich möchte allein sein. Müde. Mein Geist und mein Körper fühlen sich leer und müde an. Wollen rasten. Und dennoch weiter pilgern. Hinter mir geht die Sonne auf und ich pausiere kurz, um etwas zu trinken. Santiago wirkt so nah und so unendlich weit weg. Vor mir ein anderer Pilger, aber ich möchte nicht reden und laufe schweigend an ihm vorbei. Gegen 11 Uhr erreiche ich Melide und mache an einer Pizzeria halt. Klassisch Kaffee und Ei im Brot. Nach wie vor mein liebster Snack, um wieder zu Kräften zu kommen. Diese Pausen in hiesigen Bars oder kleinen Läden sind für mich mittlerweile mehr als nur eine Möglichkeit, etas zu mir zu nehmen. Sie erden mich. Bringen mich ab von den kreisenden Gedanken und dem Kopfkino. Sie beruhigen mich und zwingen mich auch manchmal dazu, kurz durchzuatmen und einfach das Geschehen in und um die Bar herum zu beobachten. Und meine eigene Geschwindigkeit zu drosseln, um die Schmerzen im Knie nicht noch schlimmer werden zu lassen. Während ich die Pause genieße, erhalte ich eine Nachricht aus Deutschland von einer ehemaligen Kollegin von Zeiss, Katja. Sie schreibt mir einen unglaublich lieben Text und hofft, dass es mir gut geht und ich glücklich bin. Ich kann nicht alle Tränen unterdrücken und denke zurück, an die kurze Zeit in dieser großen Firma. An die Selbstzweifel, das schlechte Bauchgefühl, die tollen Kollegen und die Entscheidung, trotz unfassbar guter Bezahlung und möglicher Karrierechancen hinzuwerfen. Einfach weil es sich nicht richtig angefühlt hat. Weil der Job bei Zeiss wohl meinem Lebenslauf mehr als entsprochen hat, aber mein Lebenslauf nicht mehr mir entspricht. Lange nicht mehr gerecht wurde. Und nur Abbild von vielen Ausbildungen war, welche ich gemacht habe, ohne wirklich zu wissen warum. Ohne wirkliche Passion oder den inneren Drang, beruflich in dem Bereich der Optik Fuß fassen zu wollen. Es hat sich einfach so ergeben. Ich war in Ausbildung und Studium sehr erfolgreich. Konnte mit meiner Bachelorarbeit sogar einen Wissenschaftspreis ergattern. Aber ich habe nie wirklich Schmetterlinge im Bauch gehabt, wenn es um die beruflichen Aussichten ging. Und dennoch freue ich mich in diesem Moment, in dieser Pizzeria in Melide so sehr über eine Nachricht von einer so fernen und gleichzeitig so nahen Kollegin.


Der dritte und letzte Abschnitt des Jakobsweges wird gern auch als Weg der Seele bezeichnet. Der Abschnitt, an dem alles zusammekommt. Man nach und nach versteht, warum man den Weg geht. Was der Weg mit einem macht. Was man selbst mit sich macht. Was sich offenbart. Was liegen bleibt. Was noch alles vor einem liegt. Was schmerzt, was einen bewegt und was einem wichtig ist. Und wertvoll. Und für was man dankbar ist. Und in diesem Momemt wird mir bewusst, was für mich Dankbarkeit bedeutet. Es sind die vielen kleinen Momente, die vielen kleinen und herzlichen Nachrichten. Von Menschen, die einen Teil meines Weges mit mir gegangen sind oder nach wie vor gehen. Menschen, die mir einen Teil ihrer Zeit und einen Teil ihres Weges schenken. Die Teil an meinem Leben haben und Teil meines Lebens sind. Oder auch Teil meines Lebens waren. Und auch wenn ich über so manche vergangene Freundschaft oder Begegnung nach wie vor nachdenke und mich der „Verlust“ dieser menschlichen Beziehung traurig macht, bin ich dennoch dankbar für die gemeinsame Zeit und den gemeinsame Weg. Denn nicht jede menschliche Beziehung, sei es Freunschaft oder Liebesbeziehung, ist dazu gedacht, ewig zu halten. Die meisten unserer Beziehungen und Freundschaften werden irgendwann ein Ende finden. Sich auseinander leben. Sich verändern. Aber genau das macht sie so besonders, so einzigartig und so wichtig. Denn sie lehrt uns die Erkenntnis, die Momente mit den Menschen, die wir lieben und die uns wichtig sind, zu genießen und das auch zu kommunizieren. Den Menschen zu zeigen, dass sie uns wichtig sind. Und auch dankbar zu sein für das, was war. Dankbar zu sein für das, was ist. Und dankbar zu sein für das, was kommen mag.

In guter Gesellschaft

Ivan und ich treffen uns in der Pizzeria wieder und pilgern von nun an gemeinsam weiter. Halten einen kurzen Plausch mit einem interessierten Pferd. Danach wieder auf und ab den Jakobsweg entlang. Die letzten Kilometer sind für mich einfach zum Vergessen. Das Knie sticht und sticht. Und schreit mich an, aufzuhören. Stehen zu bleiben und das Ding hier zu beenden. Einen Strich zu machen und mich einfach hinzusetzen. Is nich! Wir erreichen Arzua und buchen uns gemeinsam mit Laura und Marcel eine kleine AirBnB Wohnung. Und Marcel, wie soll ich es anders sagen, ist einfach ein großer Engel. Er übernimmt die Rechnung für uns alle. Denn seine Aussage „Während ich hier reise, verdiene ich Geld. Ihr Jungs aber nicht, deshalb geht das auf mich“. Ich bin sprachlos und dankbar. Und wir beschließen, für die beiden zu kochen. Pasta. Wein. Und gute Gesellschaft. Gute Gespräche. Bis in den späten Abend und mit der ein oder anderen Flasche spanischen Rotwein. Bis wir alle totmüde und völlig erledigt ins weiche und bequeme Bett fallen. Und schlafen.

Zusammenfassung Tag 25

Palas del Rei – Melide – Arzua
Entfernung: 29,2 km
Gesamtstrecke: 726,8 km
Höhenmeter aufwärts: 631 m ; Höhenmeter abwärts: 811 m
minimale Höhe: 307 m ; maximale Höhe: 563 m
Dauer: 6h 20 min


Fazit des Tages
 „Es gibt mehr gute Menschen in meinem Leben, als mir bewusst ist. Heute bin ich für jeden einzelnen dieser Menschen sehr dankbar“

Published inJakobsweg - Camino Frances

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Camino - auf dem Jakobsweg
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