Last updated on August 29, 2023
Geschätzte Lesedauer: 7 Minuten
El criminal
Pasta. Wein. Musik. Gute Gesellschaft. Kniebandagen. So sah der gestrige Abend für mich und meine Pilgerfreunde aus (bis auf die Kniebandagen, die sind mir vorbehalten geblieben). So kann man auch die Schmerzen und die schlechten Momente auf dem Weg ertragen. Sie mittragen. Und mit ihnen weiterpilgern. Marcel zeigt mir Fotos von seinem Haus in Malaga und will mich zerzlich einladen, wenn ich in der Gegend bin. Mir sein Restaurant zeigen. Und er erzählt mir ein wenig von seiner kriminellen Vergangenheit in Spanien. Ich muss gestehen, dass ich nicht mehr wirklich weiß, was er genau angestellt hat, ich würde es wahrscheinlich auch nicht erzählen. Nichtsdestotrotz ist haben Marcel und Laura meinen Weg wirkich sehr bereichert, mit vielen guten und intensiven Gesprächen. Mit Ratschlägen. Mit Gesellschaft. Mit Energie. Mit Liebe. Und mit Herz.
Vor mir liegt heute die vorletzte Etappe, bevor ich in Santiago ankommen werde. Es sind noch 38 km zu pilgern, bis ich mein Ziel erreiche. Bis ich die ersehnte Erleuchtung bekomme. Die Erlösung. Die mentale Trophäe für meine Strapazen. Zumindest dachte ich dies eine lange Zeit. Dass Santiago das allumfassende und wichtigste Ziel auf meiner Reise sei. Dass sich dort alle meine Fragen, meine Probleme und mein Kopfchaos auflösen. Dass sich in Santiago ein Schalter umlegen wird und von da an ein neues Leben beginnt. Merkt ihr schon selbst, dass all das bereits schon viel länger stattgefunden hat und stattfindet, oder? 🙂
Und plötzlich ist Alles möglich
Der Toaster wollte uns heute morgen einen Strich durch die Rechnung machen und die ganze Hütte abfackeln. Schwarzer Rauch, Feuermelder, verbrannter Toast. Läuft doch bei uns wie am Schnürrchen. Also nichts wie los auf den Weg, rein in den Regen und rein in den Segen. Wir stellen uns dem Regenwetter, Laura und Marcel bleiben noch in der Unterkunft. Ab ins Dunkel (und in die Erleuchtung?). Trotz der Regenwolken ist unsere Stimmung gut und ich fühle mich so viel fitter als die letzten Tage. Jeder einzelne WEgstein motiviert mich nur noch mehr, denn ich komme mit jedem Schritt dem heißersehnten Ziel Santiago ein Stück näher. Und fange an darüber nachzudenken, heute doch bis Santiago zu laufen und einfach durchzuziehen. Den Großteil des Wegen pilgern wir heute im Wald mit Regenponcho und nasser Hose, meist etwas getrennt voneinander, in Gedanken versunken. An der „Wall of Wisdom“ (eine Art Sammelsorium von Gedichten und Wünschen, meterlang) treffen wir auf eine kleine Katze, der wir ein paar Minuten unserer Aufmerksamkeit schenken. Anschließend eine Bar, im Außenbereich übersät mit Glasflaschen, offensichtlich hatte hier jemand richtig Brand und hat sich ordentlich einen eingeschenkt. Die letzten 30km liegen plötzlich vor mir. Und ich bin wieder in Gedanken versunken.
Denke nach über Familie, über Verantwortung und Vergebung. Über die Macht, die Vergangenes immer noch auf uns uns unser Verhalten im Hier und Jetzt hat, ohne dass wir uns dessen wirklich und wahrhaftig bewusst sind. Dass wir meinen, die Vergangenheit habe keinen Einfluss mehr auf uns, einfach weil sie vergangen ist. Und wie falsch ich damit liege. Dass die Dinge, die uns aus früheren Erlebnissen belasten und mit denen wir keinen Frieden schließen können, uns nach wie vor in unserem Alltag belasten und beeinflussen können. Und je mehr wir versuchen, dies zu unterdrücken, umso größer wird der Einfluss. Und wir nur eine einzige Möglichkeit haben, diesen Kreislauf zu beenden. Indem wir uns mit dem, was war, auseinandersetzten. Ehrlich und voller Aufmerksamkeit. In dem wir den Schmerz, die Trauer und das Leid, was Vergangenes in uns hervorruft, zulassen. Fühlen. Es greifbar und real machen. Es anzunehmen und verstehen, dass wir zwar nicht die Vergangenheit ändern können, wohl aber unseren eigenen Umgang und unsere Ansicht auf die Dinge. Durch unsere Macht, den Dingen eine andere Perspektive, einen anderen Blickwinkel und eine andere Bedeutung zukommen zu lassen, haben wir es in der Hand, der Vergangenheit die Macht über uns zu entziehen. Besser gesagt, ihre negative Energie in etwas Positives umzuwandeln. Denn schon in der Physik gilt der Grundsatz, dass Energie nie verloren gehen kann, wohl aber umgewandelt werden kann. Und das Spannende daran ist, dass durch diese Handlungsweise viel Negativität und viel Einfluss einfach verschwindet. Sich in etwas unglaublich Positives, Friedvolles und Unumkehrbares verwandelt. Und wir dadurch zwar nicht die Vergangenheit ändern, wohl aber unsere eigenen Gefühle und Ansichten darauf. Und das gibt uns Freiheit.
11.15, ab in die nächste Bar, Pilgerverpflegung organisieren. Und ihr wisst es ja nun bereits aus den letzten fast 4 Wochen. Kaffee. Brot. Ei. Leckomio! Es duftet herrlich auf unserem Weg, nach Wald, nach Natur, nach Freiheit. Wir passieren den Flughafen Lavacolla, zwei Maschinen starten neben uns lautstark Richtung Himmel. Auf dem Weg hinauf zum Monte do Gorzo beschließe ich, heute nicht bis nach Santiago zu pilgern. Auch wenn ich es zeittechnisch und körperlich schaffen könnte. Aber ich fühle es einfach nicht. Ich fühle nicht diesen Drang, diese Leidenschaft und diese Schmetterlinge im Bauch. Danke Körper, dann bleiben wir heute einfach, kurz vorm Ziel, stehen und machen eine Pause.
Vor den Toren Santiagos
Ich bin müde und erledigt und hadere nicht groß mit meiner Entscheidung, die letzten 5km bis Santiago heute nicht mehr zu pilgern. 5km! Das ist einfach Nichts im Vergleich zu den letzten Wochen. Das könnte ich doch ohne große Mühe machen. Durchziehen. Einfach noch eine Stunde draufpacken. Aber ich will es nicht. Ich möchte meine Ankunft in Santiago genießen. Ganz für mich. Ende Gelände.
Auf dem Gipfel von Monte do Gorzo ergreift mich ein tiefes Gefühl der Freude. Ich tanze mit Ivan und wir können nicht glauben, es gemeinsam so weit geschafft zu haben. Wir pausieren in einer Bar, dieses Mal mit Bier und Snacks. Stoßen auf uns an. Und sprechen über Geduld, über Pausen und den Signalen unseres eigenen Körpers. Er wirkt auf mich sehr müde und kaputt, will aber unbedingt heute noch ankommen, will sich Etwas beweisen. Ich kann ihn sehr gut verstehen, gebe ihm aber meine Bedenken mit auf den Weg und hoffe, dass ihm sein Körper die Strapazen der letzten Wochen vergeben wird. Ankunft in der Albergue und Verabschiedung von Ivan. Die Albergue besteht auf unzähligen großen Häusern, die meisten sind geschlossen – ist ja auch mitten im Winter. Ich muss also wieder ein Stück des Wegens zurücklaufen. Nichts ist schlimmer als das Gefühl, angekommen zu sein und sich dann nochmal in Bewegung setzen zu müssen.
Ich bin in der Albergue ganz allein, setze mich mit einer Flasche Rotwein auf eine Bank vor der Albergue. Versende Sprachnachrichten an Freunde. Tausche mich mit meiner sehr guten Freundin Katrin aus Jena aus. Und dann überkommt mich der nächste Schwung. Tränen laufen über mein Gesicht. Minutenlang. Vor Freude. Vor Erleichterung. Ich kann nicht fassen, gerade hier, mitten in Spanien, zu sitzen und so viel Weg, so viel Ballast, so viele Gedanken hinter mir gelassen zu haben. So viele Selbstzweifel, Selbstkritik und mangelnde Selbstliebe. Puh, dieser Weg hat wirklich eine unfassbare Schlagkraft und einen immensen Mehrwert, das kann ich euch nicht anders sagen. Nur Zulassen muss man es können. Annehmen. Und ab und zu einfach laufen lassen.
Zusammenfassung Tag 26
Arzua – Lavacolla – Monte do Gorzo
Entfernung: 33,8 km
Gesamtstrecke: 762,3 km
Höhenmeter aufwärts: 792 m ; Höhenmeter abwärts: 810 m
minimale Höhe: 248 m ; maximale Höhe: 419 m
Dauer: 8h
Fazit des Tages
„Mir reicht zu wissen, dass ich könnte, wenn ich wöllte. Hör auf deinen Körper, er weiß, was er braucht.“
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