Last updated on Juli 11, 2022
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Der Camino des Körpers
Nachdem Uli mir gestern berichtet hat, dass der Camino Frances inoffiziell in drei große Etappen eingeteilt wird (Körper, Geist, Seele), werde ich heute bei meiner Ankunft wissen, was er damit gemeint hat. Sicherlich waren die letzten Tage körperlich herausfordernd und auch mental eine große Anstrengung. Wir sind in 9 Tagen mehr als 200km gepilgert, mit endlosen Wegen vor uns, zahlreichen Anstiegen, praller Sonne, schweren Rucksäcken, schweren Köpfen (und ich meine damit nicht den Rotwein 🙂 ). Nicht wissend, was uns auf dem Weg erwartet, was Körper und Geist mit uns anstellen werden (und glaubt mir, nicht nur das erste Drittel des Camino ist körperlich herausfordernd). Und nicht wissend, wann wir ankommen und wem wir auf dem Weg begegnen werden.
Allerdings wird mir der Tag heute in besonderer Erinnerung bleiben, denn er ist voller Überraschungen, einem ganz eigenartigen Wetter und, was die Verpflegung über den Tag angeht – sagen wir es mal so – gut, dass wir ausgiebig frühstücken werden und damit DEN Grundstein für die heutige Etappe legen werden…
«Jemand hat mir mal gesagt, die Zeit würde uns wie ein Raubtier ein Leben lang verfolgen. Ich möchte viel lieber glauben, dass die Zeit unser Gefährte ist, der uns auf unserer Reise begleitet und uns daran erinnert, jeden Moment zu genießen, denn er wird nicht wiederkommen. Was wir hinterlassen ist nicht so wichtig wie die Art, wie wir gelebt haben. Denn letztlich […] sind wir alle nur sterblich.»
Jean-Luc Picard
Nach über einer Woche auf dem Jakobsweg fühle ich mittlerweile eine Art Konstanz, eine Art „Alltag des Pilgers“. Einen ersten „Effekt“, den dieser Weg mit sich bringt. Eine Routine, derer man sich nicht entziehen kann und ehrlicherweise auch nicht entziehen möchte. Denn diese Routine gibt Sicherheit, ein Gefühl des Vorwärtskommens – physisch und psychisch – und macht auch einfach Spaß.
Aufstehen. Rucksack packen. Frühstücken. Pilgern. Pause machen. Genießen. Die Signale von Körper und Geist deuten und sich entsprechend danach richten. Die Freude, anzukommen, auszuruhen. Und den Jakobsweg als das anzunehmen, was er ist. Eine vollumfängliche Reise zu sich selbst. Eine intensive Auseinandersetzung mit Verganenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem. Und der ehrlichen Erkenntnis, nur das Gegenwärtige tatsächlich beeinflussen, schätzen und genießen zu können.
Mit allem anderen kann (und sollte man sich) eine gewisse Zeit auseinandersetzen, verstehen, akzeptieren (ab und an auch loslassen) und versuchen, im Moment zu sein. Und diesen Spruch nicht einfach so lapidar dahinwerfen wie das klassische „mir gehts gut“ – sondern ihn zu leben und ihm die Aufmerksamkeit zu schenken, die er verdient.
Happy Birthday, Ivan!
6.30 Uhr – mein Freund der Wecker reißt mich aus dem durchwachsenen Schlaf. Die Matratze war saubequem, es war ruhig, gemütlich, kaum Schnarchgeräusche. Trotzdem habe ich mich die Nacht hin-und hergewälzt, bin oft aufgewacht und hatte einen eher durchschnittlichen Schlaf. Dennoch, ich fühle mich fit, die Füße sind bereit, die Laune ist hervorragend und ich bin bereit für eine lange Tour. Und die Tour heute hat es in sich. Unser Etappenziel heute lautet Burgos – mehr als 40km von uns entfernt und das „Ende“ des körperlichen Teils des Jakobsweges (was übrigens keinesfalls zutrifft, denn es bleibt körperlich herausfordernd). Doch auf der Strecke gibt es einige kleine Ortschaften, hier können wir sicher immer mal eine Pause machen und in den hiesigen Bars einkehren (und im Hintergrund lacht das Leben gemeinsam mit dem Jakobsweg lauthals, ohne dass ich es hören kann).

Das Frühtück bei Sabine und Uli ist das bisher beste, es gibt Toast, Marmelade, wunderbaren Kaffee und für mich eine Tasse Pfefferminztee nach Rezept des Hauses. Saft, frisches Brot und liebe Worte, auch für Ivan, dem wir ein kleines Ständchen zum Geburtstag trällern und ich ihm seine eigene kleine Jakobsmuschel für den Rucksack überreiche. Bisher hatte er keine eigene und freut sich wahnsinnig über die Geste.
Vor Aufbruch letzte Worte von Sabine und Uli, eine feste Umarmung für jeden und die Worte, welche ich hier auf dem Weg wohl am meisten genieße (und wenn ich zurück bin auch vermissen werde) – Buen Camino!
Hier kommt die Sonne (oder eben auch nicht)
Wir starten gegen 8.15 Uhr und draußen ist es noch ein wenig dunkel. Es ist kalt und der Himmel über uns und vor uns ist klar. Tag 10 in Folge mit bestem Wetter? Scheint so, ist aber nur ein Appetithäppchen, um uns bei der Stange zu halten und uns zu motivieren. Schritt für Schritt pilgern wir nun, jeder für sich, dem großen Ziel entgegen. Feldweg. Kleine Straßen. Feldweg. Natur um uns herum. Ein paar Bäume neben uns. Über eine kleine Holzbrücke. Und dann eine Ortschaft – „Villafranca Montes de Oca“ – ein kleines Dorf entlang der Nationalstraße N120. Direkt hinter dem Dorf erstrecken sich die Montes de Oca (übersetzt bedeutet das soviel wie „Gänseberge“), eine letzte geografische Erhebung vor der zentralspanischen Meseta. Aurelio hat sich bereits vor einigen hunderten Metern hinter uns verabschiedet – sein Magen macht ihm immer wieder Probleme, weshalb er heute langsamer als üblich pilgern muss. Ivan und ich folgen also dem Weg bergauf, straff bergauf. Ein moderner und großer Schulbus fährt an uns vorbei, Kinder winken uns fröhlich und feixend zu, während wir wohl ziemlich angestrengt wirken und zurückwinken.
Dass es heute tatsächlich sehr kalt ist, stellen wir fest, als wir an einem kleinen zuegfrorenen Brunnen stehen und ein paar Spaßfotos am gefrorenen Wasserstrahl machen. Ab jetzt vergeht uns das Lachen allerdings ein wenig, denn der Weg führt uns nun steil bergauf, den zugezogenen Wolken entgegen und immer aufwärts, hinaus aus der Ortschaft. Schritt für Schritt kämpfe ich mich den Berg nach oben, nutze bald auch meine Wanderstöcke, um die Beine zu entlasten. Früher habe ich von solchen Wanderstöcken nicht viel gehalten, sie viel belächelt und dachte, wer braucht so einen Unfug eigentlich. Spätestens seitdem ich diese wunderbaren Assistenen auf meinem Jakobsweg fast täglich genutzt habe, möchte ich sie auf keiner langen Wanderung mehr missen.
Der Aufstieg mühsam, langsam und dennoch schön – leichter Niesel und Nebel erfrischen uns ein wenig und bald hat uns Aurelio wieder eingeholt, mit dem typischen KlickKlack seiner Wanderstöcke und seinem fröhlich-frechen Grinsen im Gesicht, dass uns sagt „Jungs, ich hab euch, ich bin doppelt so alt wie ihr und ich kann euch trotzdem locker in die Tasche stecken, und jetzt Vamos“. Da Regen und Nebel zunehmen, entscheiden wir uns bald, den Regenschutz über unseren Rucksack zu ziehen, eine gute Entscheidung, denn die Rucksäcke sind mittlerweile schon gut durchgenässt. Der Weg vor uns ist mittlerweile eine Farbenpracht aus grün, braun, etwas orange, grau und weiß. Ein ansehnlicher Anblick, aber der Boden schmierig, eisig, matschig und teils ruschig. Also heißt es Augen auf, Wanderstöcke an die richtigen Stellen gesetzt und Schritt für Schritt den malerischen Weg entlang, ohne auf den Arsch zu fallen.
Auf dem Weg findet sich bald eine kleine „Erholungszone“ mit dem Namen „El oasis del camino“ mit einigen hergerichteten Baumstämmen und Sitzgelegenheiten. Aurelio, oder Don Rapido wie ich ihn gerne nenne, ist uns bereits wieder davongepilgert, Ivan und ich nutzen den Ort für eine kurze Trinkpause, eine Bar für einen Snack und einen Café ist nirgends in Sicht. Der kleine Snack, den wir uns nun gönnen, wird uns offensichtlich neben dem Frühstück den Tag retten, das wissen wir nur noch nicht…
Du bist nicht du, wenn du hungrig bist
Der Weg zieht sich endlos geradeaus, mal leicht bergauf mit vielen Steinen, mal geradeaus, durch den Wald und durch teils unwegsames Gelände. Ab und zu treffen wir auf Waldarbeiter, meist einzeln oder zu zweit, oftmals von Hunden begleitet. Nach einer gefühlten Ewigkeit bei malerischer Landschaft zweigt der Weg nach links ab und führt abwärts Richtung Ortschaft. Endlich! Die Möglichkeit für eine Pause in einer warmen Bar mit Café und etwas Essbarem. Hinter uns liegen bereits 15 km und wir sind bereit für einen Break. San Juan de Ortega – unser nächster Stop. Und überall Fehlanzeige. Alles geschlossen. Alles verriegelt. Kein Café. Kein Snack. Es folgen die nächsten Dörfer und immer wieder eine Gefühlskaskade aus Vorfreude, Enttäuschung und Ärger. In jeder Ortschaft, die wir heute ansteuern, keine Chance, unser Geld loszuwerden. Nicht in Agés. Nicht in Atapuerca – das liegt übrigens 22km von unserem heutigen Startpunkt entfernt…

Hier ist Ivans Laune defintiv am Tiefpunkt – meine Laune hingegen überraschend gut. Vielleicht, damit einer von uns beiden den anderen motivieren kann, ansonsten wäre das hier eine ganz fiese Nummer. Du bist einfach nicht du, wenn du hungrig bist. Ivan und ich setzen uns in Atapuerca vor eine geschlossene Bar, der Besitzer ist damit beschäftigt, die Fassade des Hauses zu erneuern. Neben uns ein Bibliotheksbus mit lauter Musik. Zwei Hunde, die sich gegenseitig jagen und immer wieder an uns vorbeisausen. Wir zaubern unsere letzten Snacks aus dem Rucksack (ein Schokoriegel, ein matschiges Schokohörnchen und die letzten Stücke Schokolade). Füllen unser Wasser am hiesigen Brunnen auf (und hoffen auf eine gute Qualität des Wassers – keiner von uns hat hier Bock auf erhöhte und druckerzeugende Darmaktivitäten mitten im Nirgendwo… 🙂 ).
Die Rettung
Aufwärts. Aufwärts. Mit vielen Steinen auf dem Weg. Geröll. Unwegsam. Ich muss an Uli denken und an den körperlichen Teil des Camino – heute trifft das eindeutig zu und ich bin wieder einmal dankbar für mein festes, fettes und schweres Schuhwerk. Mit diesen Schuhen könnte man problemlos fetteste Nägel in den Boden rammen, ganze Wände einreißen und nebenbei noch durch endlose Säurepfützen laufen – die Schuhe würden drüber lachen. Nach großer Kraftanstrengung und mit mittlerweile im Sekundentakt knurrendem Magen kommen wir an der höchsten Stelle des Tages an, an einem Gipfelkreuz, umringt von einer Unmenge an Steinen. Ein weiteres „Monument“ der Pilger, weit und breit kein einziger freier Stein zum Ablegen aufzufinden. Dafür nicht weit entfernt endlose Zäune mit dem Hinweis auf Militärgebiet. Religion und Militär so nah beieinander zu sehen wirkt auf mich in diesem Moment sehr befremdlich.
Wir folgen dem Weg nun abwärts, der Himmel zieht auf, die Sonne strahlt. Die Laune wird schlagartig besser, auch wenn der Magen mittlerweile lauthals schreit und versucht, sich selbst zu verdauen. Vorbei an einem riesengroßen Steinbruch, den Feldweg, später die Straße entlang. Ivan und ich versuchen uns mit Musik bei Laune zu halten, stapfen Schritt für Schritt den Asphalt entlang. Linkerhand ein von Pilgern ansehnlich bemalter, alter Bus. Solche Anblicke heben die Laune, denn hier wird mir bewusst, dass man nicht allein ist, dass bereits viele Pilger den Weg gegangen sind. Hungrig. Müde. Mit schmerzenden Füßen. Und nicht aufgegeben haben.
Und dann klingelt das Telefon von Ivan (trotz des gerissenen Displays kann er den Anruf entgegennehmen). Aurelio – er sitzt in einer Bar, einen knappen Kilometer vor uns! Und das ist unser Stichwort, aus langsamen Stapfen wird freudiges, euphorisches Schnellwandern. Die Aussicht auf eine ehrliche Pause mit Chance auf Essen ist wie ein Gamechanger, eine handvoll Koffeintabletten, wie Red Bull auf Ex.
Und schon bald stehen wir vor der Rettung des Tages – der Bar „La Parada“ in Cardeñuela Riopico. Der ersten richtigen Pause nach 6 Stunden Wanderung und mit knapp 27km in den Beinen. Have a Break – have a Burger before Burgos!
Aurelio sitzt bereits hoch erfreut in der Bar, wir bestellen Getränke und Burger. Die Kinder der Besitzer schauen auf der Flimmerkiste Angry Birds auf Netflix, auch ich muss immer mal wieder dem Geschehen folgen und erfreue mich dieser sagenhaften, langen und erholsamen Pause. Happy statt Angry ist jetzt das Motto des Tages. Vor uns liegen immer noch knapp 15 km bis zu unserem Tagesziel, der großen Stadt Burgos. Also Rucksack schnallen, die Energie bündeln, aufsatteln und auf zur letzten Etappe des Tages.
Willkommen in Burgos
Die letzten Kilometer des Tages laufen sich leicht, angenehm, frei. Der Magen voll, der Kopf frei, die Füße leicht pochend. Der Weg führt uns nun entlang einiger Straßen, vorbei an einem großen Flughafen und hinein in die große Stadt Burgos, dem Ende des körperlichen Camino und dem Beginn des mentalen Camino. Eine Schnittstelle zwischen Körper und Geist, wenngleich dies nur eine inoffizielle Einteilung ist und auf dem realen Camino diese Grenzen täglich mehrfach ineinander übergehen.
Die letzten Kilometer sind größtenteils geprägt von langgezogenen Straßen, Autobahnüberquerungen und der Pilgerung am Straßenrand. Gefolgt von immer größer werdenen Häusern und unserer Ankunft in Burgos, Hauptstadt der Provinz Castilla y Leon und mit 175.000 Einwohnern ein absoluter Kulturschock nach Tagen der kleinen Dörfer und Gemeinden. Mittelalterliche Häuser hier und da, große Industriegebäude dort. Viel Autoverkehr, die Straßen belebt, laut. Und wir fröhlich pilgernd, dem Weg nun noch einige Kilometer geradeaus folgend zu unserer Unterkunft, der Albergue Municipal in Burgos, also der allgemeinen Pilgerunterkunft in Burgos. Anzahl von Schlafplätzen: 150. Bevor wir uns in der Unterkunft anmelden, pilgern Ivan und ich weiter Richtung Kathedrale von Burgos, einem riesigen gotischen Bauwerk mit einem wundervollen großen Platz zum Flanieren und Entspannen. Und wir mittendrin, Bier trinkend und feixend über den langen, anstrengenden Tag. Stolz auf uns selbst, auf unser Durchhaltevermögen und sagenhaft glücklich, nach über 40km und mehr als 9 h Wanderung endlich angekommen zu sein.
Die Unterkunft selbst ist groß, warm, gemütlich, ruhig. Eine heiße Dusche später und nachdem ich mich in meinem eigenen Doppelstockbett eingerichtet habe entscheide ich mich, heute nicht mit Ivan und Aurelio zu Abend zu essen – ich möchte den Tag für mich ausklingen lassen. Wasche Wäsche, schreibe Tagebuch und stelle fest, dass auch unser verrückter Brite (FGB) in der Herberge ist. Im großen Gemeinschaftsraum sitzt er einige Bänke von mir entfernt und wankt stark hin und her, schläft irgendwann total betrunken ein. Für mich ein sehr trauriger Anblick, wohl einer der einsamsten Menschen auf dem Jakobsweg…
Nach einem langen, harten, anstrengenden und dennoch wahnsinnig schönen Tag gehe ich früh und zufrieden ins Bett. Schlüpfe in den Schlafsack, ziehe den Reißverschluss zu und mache zufrieden die Augen zu.
Zusammenfassung Tag 10
Espinosa del Camino – San Juan de Ortega – Atapuerca – Burgos
Entfernung: 41 km
Gesamtstrecke: 282,5 km
Höhenmeter aufwärts: 589 m ; Höhenmeter abwärts: 621 m
minimale Höhe: 861 m ; maximale Höhe: 1157 m
Dauer: 10h
Fazit des Tages:
„Nicht jede Situation ist vorhersehbar. Nicht jede Situation lässt sich sofort ändern. Aber man kann seine eigene Einstellung der Situation gegenüber ändern, sie annehmen und als Chance begreifen. Als Herausforderung, als Motivation, als Möglichkeit, weiterzumachen und weiterzugehen. Schritt für Schritt. Der Nebel wird sich irgendwann auflösen und die Sonne wird scheinen.“
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