Last updated on Juli 20, 2022
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Tischlein, deck‘ dich!
Mein Wecker klingelt 7.00 Uhr – ich bin bereits seit einigen Minuten wach. Obwohl es ungewöhnlich ruhig in unserem Mehrbettzimmer war (wir haben hier zu sechst geschlafen), habe ich mich mehrfach hin- und hergewälzt und keinen festen Schlaf gefunden. Normalerweise schlafe ich tief und fest, egal wo. Ich kann überall schlafen. Stundenlang. Ohne Probleme. Ohne nächtliche Botengänge. Wie ein Baby.
Auf dem Jakobsweg ist das allerdings selten möglich, trotz körperlicher Erschöpfung. Der Geist des Jakobsweges spukt offensichtlich dauerhaft auch in meinem Kopf und arbeitet unaufhörlich daran, sich festzubeißen und einen festen Platz zu ergattern. Und ich kann mittlerweile mit einigem zeitlichen Abstand eindeutig sagen: der Geist des Jakobsweges hat einen festen Platz eingenommen und wird sich auch nicht mehr vertreiben lassen. Spätestens mit meinem ersten Tattoo auf dem rechten Unterarm hat sich auch der Weg für immer in den Körper „eingebrannt“.
Ich bereite mich also auf den Tag vor, um mich herum werden die Podologen aktiv. Es wird gecremt, gerieben, gepflastert. Hier und da immer mal wieder akkustische Untermalungen der schmerzhaften Stellen an den Füßen. Und natürlich auch der ein oder andere Pilger mit dünner Nadel gegen weiche Haut.
Und ich? Schaue nach unten auf die fröhlichen und gesunden Füße. Wackele mit den Zehen hin und her, keine Blasen, keine komischen Stellen, nur einer steht wie immer ein bisschen komisch krumm. Die fetten, schweren Wanderschuhe zahlen sich also doch aus! (die Dinger wiegen immerhin fast 2kg)
Der Herbergsbesitzer hat uns eine Etage weiter unten bereits das Frühstück vorbereitet – da ich der erste im Raum bin, decke ich den Tisch für das gemeinsame Frühstück und genieße die ersten Minuten für mich allein bei einem Kaffee. Und schaue auf mein Telefon – leider keine Nachricht von Ivan. Ich hoffe, dass er gut an seinem Tagesziel angekommen ist und eine Unterkunft gefunden hat. Er hat bereits die letzten Tage angedeutet, dass er sich auf dem Weg mehr herausfordern möchte und auch über seine körperlichen Grenzen gehen will. Doch bei solch einer langen Pilgerung ist es ratsam, mit den Kräften gut zu haushalten und nicht gegen, sondern mit dem Körper zu arbeiten. Das wird Ivan, und hier ein erster kleiner Spoiler, noch schmerzhaft lernen auf seinem eigenen Jakobsweg…
Und hier ein zweiter kleiner Spoiler – obwohl ich ebenfalls körperliche Grenzen teste und verschieben möchte, lerne ich auf dem Jakobsweg, genau dies nicht zu tun…und zwar zu einem durchaus besonderen Zeitpunkt…
Der frühe Vogel fängt den Sonnenaufgang
Es ist noch nicht mal 8 Uhr und ich finde mich bereits mit dem Rucksack geschultert auf meinen ersten Metern des Tages auf dem Jakobsweg, heutiges Ziel ist Frómista, eine Kleinstadt mit weniger als tausend Einwohnern, die Herberge habe ich bereits per App herausgesucht. Obwohl ich mit Aurelio noch einen verbliebenen Pilgerpartner an meiner Seite weiß, pilgere ich bereits vor ihm los, um für mich zu sein, den heutigen Tag ganz und gar mir zu widmen, der Ruhe, der Einsamkeit. Und dem Vertrauen darauf, auch heute gesund und glücklich an meinem Ziel anzukommen.
Ich habe lange Zeit mit der Entscheidung Ivan’s, am gestrigen Tag einfach allein weiterzupilgern, gehadert. Mich geärgert. Mich verlassen gefühlt. Irgendwie im Stich gelassen. Doch nach dem erholsamen Schlaf am gestrigen Nachmittag traf mich die Erkenntnis, dass er diese Entscheidung für sich getroffen hat und nicht gegen einen seiner Pilgerpartner. Für ihn hat es sich richtig und wichtig angefühlt, weiterzupilgern. So wie es sich für mich heute richtig und wichtig anfühlt, mich allein auf eine neue Etappe aufzumachen und den Tag mit mir allein zu verbringen.
«Du brauchst keine Angst zu haben, du brauchst kein Wissen, du brauchst nur Mut, deinen Weg zu gehen.»
Anja Nickel, deutsche Jakobspilgerin
Und ich werde bereits zu Anfang des Tages belohnt. Mit einem wunderbaren Sonnenaufgang und einem fantastischen Anblick auf die vor mir liegenden Felder, leicht bedeckt mit einer dünnen Schicht aus Schnee und Eis. Gepaart mit den Sonnenstrahlen ergibt das eine wunderbare Aussicht auf den vor mir liegenden Weg.
Vorbei an einem alten, steinernen großen Komplex direkt an der Straße. Und von da an immer entlang der kleinen Hauptstraße mit regelmäßgiem Vogelgezwitscher und zunehmender Wärme. Meinen ersten Halt mache ich in Castrojeriz – mir entgegen kommt ein Kleintransporter, der sich durch die engen Gassen quält und an einzelnen Häusern hält und mehrfach hupt. Offensichtlich eine Art Lebensmitteltransporter oder Eismann.
Entlang der schmalen Gassen entdecke ich zu meiner Freude nach kurzer Zeit eine geöffnete Bar, hier mache ich Halt für einen Café und meinen ersten Stempel. Und versuche, die ungewohnte Einsamkeit zu genießen. Für sich allein Pilgern und den Weg zu genießen ist die eine Sache, aber zu den Pausenzeiten keinen Austausch über den zurückliegenden Weg haben zu können eine ganz andere.
Ein Blick zurück
Kurze Pausen schärfen den Fokus, sortieren die Gedanken und vor allem, schmecken verdammt gut. Ich verabschiede mich bald vom Besitzer der Bar und folge nun wieder meinem Weg. Hinaus aus der kleinen Stadt, kurz leicht abwärts, um bald einen Ausblick auf den vor mir liegenden, langgezogenen Weg zu erhaschen. Feldweg. Berg. Sonne. Blauer Himmel. Das wird ein Spaß. Den Feldweg folgend, grüßt mich bald ein Baggerfahrer, leicht verschwitzt in seiner Kabine sitzend. Ich kann es ihm nachfühlen, Winterjacke und Pullover sind bereits sein Ewigkeiten im Rucksack verstaut. Also kämpfe ich mich Schritt für Schritt erst den Weg geradeaus, bald den Weg bergauf. Und mache hier und da eine kurze Verschnaufpause, meist an einem günstigen schattigen Platz. In den Sommermonaten starten viele Pilger ihren Tag bereits 4 Uhr (teilweise noch früher), um der heißen und ungnädigen Mittagssonne zu entgehen – wer kann es ihnen verübeln? Oben am Berg angekommen, blicke ich auf das hinter mir liegende Tal und genieße einen großen Schluck Wasser, während ich auf einer kleinen Steinmauer sitze.
Während ich den ersten Erfolg des Tages genieße, den Blick schweifen lasse auf dieses wunderbare, große Tal hinter mir (und mit etwas Sorge den langen langen Weg vor mir betrachte) schlägt auch hier der Jakobsweg gedanklich zu. Mittlerweile bin ich es gewohnt, dass Gedanken auf dem Weg wie aus dem Nichts auftauchen, sich festbeißen und um Beachtung betteln. Und sich nicht eher vom Fleck bewegen, bevor man sich nicht intensiver mit ihnen auseinandergesetzt hat. Ihnen Beachtung geschenkt hat. Sie bauchpinselt, während man den Kopf leicht schräg nach oben richtet. (und hierbei muss ich unwillkürlich an JD aus Scrubs denken)
Auf mich wirkt der Jakobsweg mittlerweile wie eine Solo-Therapie, gepaart mit körperlichen Aktivitäten. Ob es Therapiekonzepte gibt, die das Pilgern als Ansatz in Betracht ziehen? Denn oftmals sind Gedankenschleifen in meinen Augen wie Schaukeln: man ist die ganze Zeit in Bewegung, aber so richtig vorwärts kommt man deshalb auch nicht. Man sieht am Scheitelpunkt der Bewegung oftmals, was vor einem liegt, welche Aussicht sich bietet, nur um dann von den Ketten der Schaukel und den Gesetzen der Physik zurück nach unten gezogen zu werden.
Vielleicht gibt einem das physische Vorankommen auch mental eine Möglichkeit, vorwärtszukommen. Hier und da einen Gedanken einfach liegen zu lassen (und möglicherweise mit einem Ritual zu verbinden, wie es viele Pilger beispielsweise mit Steinen am Weg machen). Vielleicht hat man während des Pilgerns die Möglichkeit, die Schaukel zu verlassen und sich genauer anzuschauen, was man vorher nur am Scheitelpunkt aus weiter Entfernung betrachten konnte…
Wer Annahmen sät, wird Lehere ernten
Nach der erholsamen Pause in der Vormittagshitze treibt es mich nun weiter den Tag entlang. Und besonders heute wirken die Feldwege, auch wenn ein leichter Wind weht, sehr lang, zäh und unnachgiebig. Immer weiter folge ich dem Weg, bald über eine kleine Brücke, hier verweile ich kurze Zeit am Wasser. Weiter Richtung Itero de la Vega – Ort für meine heutige Mittagspause. Direkt am Ortseingang finde ich eine kleine Bar und entscheide mich dafür, eine Pause einzulegen. Ich bestelle routiniert auf spanisch die gewohnten Köstlichkeiten und grüße zwei Pilger, die einen Tisch weiter sitzen. Die Köchin selbst bringt mir nach kurzer Zeit den genussvollen Snack und einen Café con leche. Während meiner Pause überlege ich kurz, ob ich bereits hier meine Wasservorräte wieder auffüllen sollte, denn die Hitze ist heute unerbittlich. Doch, so denke ich naiv, leichtgläubig und ehrlich gesagt auch ziemlich dumm, ich werde schon auf dem Weg Möglichkeiten finden. Und im Hintergrund lachen wieder die Geister des Jakobsweges. Also mache ich mich auf, den Rucksack geschultert, hinaus aus Itero de la Vega. Von hinten klingelt mich eine ältere Dame auf dem Fahrrad wild an und überholt mich mit rasanten 10km/h von links. Leben am Limit auf dem Jakobsweg ist in den Reiseführern oftmals nicht erwähnt 🙂
Ich höre die Dame auf dem Rad noch rufen „Buen Camino“ und kämpfe mich Schritt für Schritt durch die Mittagshitze. Schnell stelle ich fest, dass es unklug war, meine Wasservorräte nicht aufzufüllen, denn sie sind bereits jetzt knapp. Die Hitze nagt am Körper, ich schwitze, Ende Januar, mitten in Spanien, und rationiere mein Wasser sorgsam. Die letzten 100ml hebe ich mir für den Notfall auf. Der nächste Ort, Boadilla del Camino, alles geschlossen. Kein Shop, keine Bar, kein Wasser. Ich nutze den Schatten an einer Brücke, um mich kurz zu verschnaufen und auf ein Wunder zu hoffen. Hier an der Brücke steht eine leere Weinflasche. Später werde ich erfahren, dass unser guter alter britische Pilger FGB bereits hier war und sich keine Stunde zuvor genüsslich den Wein in die Kehle hat rieseln lassen. Bei dieser Hitze!
Nun kämpfe ich mich den Weg entlang eines kleinen Kanals, ein toter Fisch treibt auf der Oberfläche und folgt mir ein kurzes Stück die Strömung entlang. Obwohl ich großen Durst spüre und selbst über ein Glas Wein unendlich dankbar wäre, diese Kanalsuppe rühre ich nicht an. Also weiter Richtung Tagesziel – Frómista. Kilometer um Kilometer erkämpfe ich mir heute auf dem heißen Pflaster den verdienten Drink. Und dann, endlich, 14.45 Uhr, erreiche ich Frómista.
Die letzten Meter folge ich dem Weg zu meiner Unterkunft, führe einen kurzen Schwatz mit dem Herbergsvater der „Albergue Luz de Frómista“ , beziehe mein Bett und eile zur nächstgelegenen Bar, keine 200 Meter entfernt, für den verdienten Drink. Und ich kann nur sagen, Wasser ist nicht nur Leben, es ist das pure Leben (auch wenn es an diesem Tag ein kühles Bier war 🙂 )
Wein und Wasser
Nach einer verdienten Abkühlung kehre ich zurück zur Unterkunft, versuche mich ein wenig zu erholen. Doch viel Ruhe kehrt nicht ein. Die Italiener kommen bald an und teilen sich mit mir ein 8-Bettzimmer. Aurelio hat ein Zimmer für sich und wir verabreden uns zum gemeinsamen Abendessen in einer hiesigen Bar. Der Besitzer drückt mir ein Spanischbuch in die Hand und Aurelio lehrt mich ein paar Aussprachen und Ausdrücke. Zwischendurch zeigt er mir immer wieder Familienfotos, speziell von seinen Enkeln und sieht dabei wahnsinnig stolz und glücklich aus. Gelassen. Frei. Zufrieden. Und voller Energie.
Ich moniere, dass er seinen Wein, den guten, fantastischen Rotwein, immer mit Wasser vermengt und den Rotwein damit verwässert. Er schaut mich nur unbeeindruckt an, zeigt auf seinen Bauch und sagt trocken „a qui“. Und will mir damit verdeutlichen, dass im Bauch sowieso alles zusammenkommt und vermischt wird. Dann lachen wir herzlich und erfreuen uns am hervorragenden Essen. Am Ende bringt uns der Kellner einen Sahnelikör des Hauses zur Verkostung, bevor wir uns auf den Weg machen. Ich setze mich noch eine halbe Stunde vor die Bar, eine kleine Katze kuschelt sich an mich und wir schweigen gemeinsam in der Dunkelheit von Frómista und genießen die Ruhe und Einsamkeit. Und ich muss wieder feststellen, dass der Camino mich auch heute überrascht hat. Fasziniert. Gefordert. Gelehrt. Und beeindruckt.
Zusammenfassung Tag 12
Hontanas – Castrojeriz – Itero de la Vega- Frómista
Entfernung: 34,3 km
Gesamtstrecke: 347,5 km
Höhenmeter aufwärts: 347 m ; Höhenmeter abwärts: 465 m
minimale Höhe: 764 m ; maximale Höhe: 913 m
Dauer: 7 h
Fazit des Tages:
„Wasser ist die Quelle des Lebens. Fülle sie daher auf deinem Weg stets gut auf. Wasser zu brauchen und es gleichzeitig zu sehen, aber nicht nutzen zu können, ist eine große Qual. Ein kühles Getränk zur richtigen Zeit ist daher manchmal mit Nichts in der Welt zu vergleichen!“
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