Last updated on April 9, 2023
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Auf dem Weg zum eisernen Kreuz
Es ist 8 Uhr morgens, wir sitzen nach wie vor in einer Art Vorraum, in dem alle Schuhe lagern und warten darauf, dass der „Speiseraum“, also der große Raum mit dem Kamin geöffnet wird. Vor einer Stunde haben wir einen fantastischen Sonnenaufgang erleben dürfen, klarer Himmel und eine aufsteigende Sonne am Horizont, voller Energie und Wärme. Niemand hat auch nur einen Ton gesprochen, es war absolute Stille. Bis auf ein Pfeifen in meinem Ohr – offensichtlich spielt der Clown heute ein wenig mit seinen Instrumenten und versucht neue Möglichkeiten zu finden, mir auf den Sack zu gehen – ich genieße die Szenerie dennoch, selbst mit musikalisch absolut schlechter Untermalung.
Den letzten Abend haben wir mit viel Wein, gutem Essen und einigen Gesprächen verbracht. Theresa hat uns ein wenig von ihren Sorgen, Problemen und Ängsten berichtet und wir haben ihr versucht, hilfreiche Tipps, Ideen und Ratschläge zu geben. Und ihr ein wenig der Angst zu nehmen. Wieder einmal stelle ich auf meinem eigenen Weg fest, dass andere Menschen mit anderen Problemen zu kämpfen haben, diese Probleme anders angehen, anders ansehen und andere Lösungswege suchen und finden. Und dass meine eigenen Sorgen und Probleme verglichen mit anderen gar nicht so riesig und angsteinflösend wirken. Was nicht bedeutet, diese kleinzureden. Allerdings relativieren sich manchmal die eigenen Ansichten wenn man erkennt, dass das eigene Leben grundlegend gut ist, wenngleich nicht immer einfach. Und es sich, speziell mit einem schmerzenden Knie, nicht immer einfach durchs Leben laufen lässt.
Nach dem Frühstück und einem kleinen Zwist mit Ivan (unser erster auf diesem Trip und ich weiß absolut nicht mehr, worüber wir uns eigentlich gestritten haben – vielleicht waren wir einfach ein wenig aufgeregt aufgrund der Tatsache, dass wir heute das Cruz de Ferro erreichen werden und nicht wirklich wissen, was passieren wird…) haben wir uns auf dem Weg zum eiseren Kreuz, dem Cruz de Ferro, gemacht.
Cruz de Ferro (Auszug aus Wikipedia)
Das Cruz de Ferro (span.: Cruz de Hierro, dt.: Eisenkreuz) ist ein kleines Eisenkreuz, das, auf einen Baumstamm montiert, in den Montes de León den mit 1500 msnm höchsten Punkt des Jakobswegs Camino Francés am Monte Irago markiert. […] Der ursprünglich nicht-christliche Brauch, am Cruz de Ferro einen Stein abzulegen, wird inzwischen problemlos in religiös motivierte Wallfahrten integriert, indem der von zu Hause mitgebrachte Stein als Symbol der auf dem Weg hinter sich gelassenen „Sünden“ respektive der schon erfahrenen Läuterung betrachtet wird. Viele Pilger nutzen das Cruz de Ferro auch, um am Baumstamm des Kreuzes persönliche Dinge, Briefe oder gar Votivgaben anzubringen.
Loslassen
Bereits auf dem Weg zum Cruz de Ferro denke ich intensiv darüber nach, was ich zurücklassen möchte. Was ich zurücklassen kann. Was ich zurücklassen muss. Bis zu diesem Tag habe ich mir keinerlei Gedanken darüber gemacht, was ich am Cruz de Ferro erleben möchte. Was ich mitbringen möchte, um es zurückzulassen. Aber das war auch alles im Vorfeld nicht nötig, denn die Antwort hatte ich die ganze Zeit bei mir und auch in mir. Wie bereits geschrieben, hinterlassen Pilger oftmals traditionell einen Stein aus ihrer Heimat am Cruz de Ferro, um mit ihren Sünden abzuschließen. Für mich allerdings hatte der Cruz de Ferro eine weitaus wichtigere und bessere Bedeutung. Und während ich auf das eiserne Kreuz zulief, hatte ich die Antwort darauf, was ich materiell zurücklassen möchte.
Warum auch immer, hatte ich in meiner Geldbörse ein kleines hölzernes Herz in der Münztasche dabei. Dieses Holzherz habe ich bei einer Hochzeit meines guten Freundes Ben, der im Jahr 2017 geheiratet hat, mitgenommen. In der damaligen Überlegung, es irgendwann sicher gebrauchen und sinnvoll nutzen zu können. Weitsicht kann ich 🙂
Zwischen dem Kreuz und mir lagen mittlerweile nur noch wenige Meter und ich entschied mich dazu, stehen zu bleiben und, ganz dramatisch und absolut wirksam, ein wenig Musik zu hören. Und welcher Song wäre besser geeignet für einen Akt des Loslassens als der Song „Now we are free„?
Und Freunde, hat der mich bretthart erwischt. Hat der mich eiskalt erwischt. Mitten in Spanien, mitten auf meinem eigenen Camino, mittendrin. Mit der Sonne im Nacken, dem eisernen Kreuz vor mir, umringt von zahlreichen Steinen tausender Pilger. Zahlreichen Erinnerungen, Emotionen und Gedanken. Hier an diesem Ort haut es mich emotional um. Jeder wird auf dem Jakobsweg irgendwann weinen – und hier bin ich dran. Hier bin ich bereit, es einfach zuzulassen. (generell ist Weinen ja eine absolut großartige Erfindung des Körpers, um einfach mal Emotionen rauszulassen und sich danach besser zu fühlen).
Und als ob das nicht schon genug wäre, um loszulassen, entscheide ich mich dazu, das Holzherz zu beschriften und es am Cruz de Ferro abzulegen.
Ich entscheide mich dazu, es auf beiden Seiten zu beschriften.
Vorderseite: „Freunde“, „Familie“, „Liebe“
Rückseite: „Felix“
Alles weitere überlasse ich eurem eigenen Interpretationsspielraum, eurer eigenen Fantasie und meinen eigenen Erinnerungen, Gedanken und Momenten an diesem Ort…
Das Holzherz lege ich direkt am eisernen Kreuz unter einem großen Stein ab. Und setze mich danach mit dem Blick Richtung Tal auf den großen Steinhaufen. Und weine. Minutenlang. Ich kann nicht wirklich erklären, warum genau. Was genau mich dazu bewegt, hier mitten in der schönsten Natur bei bestem Wetter einfach ordentlich zu heulen und emotional mal richtig die Sau rauszulassen. Und mich nicht darum zu kümmern, wer gerade an mir vorbeiläuft oder ob es möglicherweise irgendjemanden stören könnte. Ich weiß nicht mal was weinen auf spanisch heißt, aber es tut verdammt gut. Es fühlt sich unheimlich befreiend an. Selbst jetzt beim Schreiben dieser Zeilen kann ich diese Momente nachempfinden. Diese nicht enden wollenden Minuten des Weinens haben sich so befreiend und leicht angefühlt. Ein Gefühl, als ob mein mentaler Rucksack plötzlich mehrere Kilo leichter geworden ist. Ich kann nicht bestreiten, dass ich an diesem Ort loslassen konnte, etwas zurücklassen, etwas hinterlassen, etwas akzeptieren. Annehmen. Verstehen. Frieden schließen. Mit vergangenen Erlebnissen, Erfahrungen und mit mir selbst. Und hier an diesem Ort erkenne und erlebe ich die Magie und Macht des Loslassens und des Jakobsweges – es fühlt sich befreiend an. Loslassen bedeutet nicht zwangsläufig aufzugeben. Bedeutet nicht zwangsläufig, Kontrolle zu verlieren. Bedeutet nicht zwangsläufig, schwach zu sein.
Es bedeutet nur, zu akzeptieren, dass manche Dinge nicht zu ändern sind. Dass uns manche Dinge immer begleiten werden. Immer ein Teil von uns sein werden. Immer einen Teil unserer eigenen Identität ausmachen werden. Manchmal sogar dazu geführt haben, dass wir uns weiterentwickelt haben – einfach weil es keinen andern Weg gab.
Durch unsere Entscheidung des Akzeptierens und Loslassens können wir entscheiden, wieviel Macht wir diesen Dingen über unsere Gegenwart und Zukunft geben. Und wie wir mit den Erfahrungen, dem möglichen Leid aber auch mit dem möglichen Chancen, die sich aus dem Leid ergeben können, umgehen wollen. Wir können entscheiden, wie schwer unser mentaler Rucksack auf unserem weiteren Weg sein soll. Und wie sehr wir uns damit quälen wollen, unnötiges Gepäck weiterhin den langen Weg des Lebens zu schleppen.
Es reist sich besser mit leichtem Gepäck
Nach vielen emotionalen Momenten, ein paar Taschentüchern und meinem Ärmel sind die meisten Tränen getrocknet. Ich stehe auf, blicke der Sonne entgegen und genieße die Wärme, die Energie und die freien Momente. Danach mache ich mich auf den Weg zu Ivan, der ebenfalls voller Tränen bereits auf mich zukommt. Es folgt eine lange Umarmung, die uns beiden sichtlich gut tut. Und wir danach wortlos mit Theresa, die sich zu uns gesellt, weiterpilgern. Und die Aussicht genießen. Die Natur. Den Weg. Schritt für Schritt. Jeder für sich und dennoch gemeinsam. Bald erreichen wir ein kleines Bergdorf, welches im Sommer sicher ein absolutes Highlight hier auf dem Weg ist – El Acebo. Wir folgen weiter dem Weg, die Kniescherzen melden sich wieder, allerdings schenke ich ihnen heute wenig Beachtung und zücke meine Wanderstöcke aus dem Rucksack. Auf einem steilen Pfad bergab rutscht mein Knie kurzzeitig auf einem glatten Stein weg, aber es bleibt stabil – nochmal Glück gehabt! Im nächsten Ort Molinaseca machen wir eine kurze Pause am Wasser, gemeinsam mit Marcel und Laura, die wir hier treffen. Ich nutze die Pause, um meine Füße ins kalte Wasser baumeln zu lassen und im Gras ein kleines Nickerchen zu halten. Und den Tag, die Gedanken und die Momente der letzten Stunden wirken zu lassen.
Es ist heiß, Theresa hat bereits Sonnenbrand im Gesicht und die letzten Kilometer ziehen sich wieder mal wie Kaugummi. Gegen 17 Uhr erreichen wir unser heutiges Ziel – Ponferrada. Und setzen uns, wie sollte es auch anders sein, in den Außenbereich einer kleinen Bar. Marcel und Laura gesellen sich später dazu, wir stoßen auf unseren Tag und unser Ankommen an. Am Ende buchen wir uns ein gemeinsames Hotelzimmer, Theresa hat einen fetten Sonnenstich und wird zu kalten Wickeln verdonnert, während Ivan und ich Pizza und Snacks organisieren.
Zusammenfassung Tag 19
Foncebadón – Molinaseca – Ponferrada
Entfernung: 26,8 km
Gesamtstrecke: 562,3 km
Höhenmeter aufwärts: 353 m ; Höhenmeter abwärts: 1254 m
minimale Höhe: 505 m ; maximale Höhe: 1511 m
Dauer: 8h 10 min
Fazit des Tages
„Jeder wird auf dem Camino irgendwann weinen. Und loslassen.“
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