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Tag 6 | Willkommen in La Rioja!

Last updated on Juli 11, 2022

Geschätzte Lesedauer: 9 Minuten

Frost gegen den Gedankenteufel

Obwohl es mich vor der kalten Nacht in unserer Herberge in Torres del Rio gegraut hat und ich mich in Winterklamotten unter mehrere Decken vergraben habe, konnte ich das erste Mal auf meinem Jakobsweg gut schlafen. Richtig gut. Erstaunt wache ich pünktlich sieben Uhr auf und stelle fest, dass ich zum ersten Mal durchgeschlafen habe. Offensichtlich hat sich auch der Gedankenteufel zurückgezogen und wollte aus seiner kuschelig warmen Höhle in der Nacht nicht herauskommen. Vielleicht wirken deshalb viele kühle Getränke gegen den Gedankenstrom? (Notiz an mich – Feldversuch durchführen und dokumentieren)
Doch die nächtliche Ruhe wird jäh unterbrochen. Aurelio, kurz zuvor noch wie ein Vampir liegend in seinem Bett, richtet sich auf und fängt an loszuplappern. Wie eine Nähmaschine, unaufhöhrlich, monoton und mit seiner tiefen, spanischen Stimme. Bapp Bapp Bapp Bapp Bapp. Leider hat er, im Gegensatz zu meinem Wecker, keine Snooze Taste und ich kann ihn auch nicht, wie manche Wecker, einfach gegen die Wand werfen 🙂

Müder Körper trotz ausreichendem Schlaf – auf in den Tag

Also ergebe ich mich dieses Mal meinem Schicksal und nehme mir für die nächsten Tage vor, Aurelio auf seinen morgendlichen Gesprächsbedarf hinzuweisen. Vielleicht hilft es, wenn ich ihm höflich und lächelnd sage „Tranquillo Aurelio, Tranquillo 🙂 “ (Oder kennt jemand von euch einen höflichen Ausdruck auf spanisch für „Junge, laber doch nicht zum frühen Morgen ohne den ersten Kaffee schon wie ein Eichhörnchen auf Koffeintabletten“)

Gemeinsam einsam pilgern

Unser Trio startet nach dem gemeinsamen Packen in das nahe gelegene hauseigene Restaurant zum Frühstück. Wie üblich gibt es zum frühen Morgen Toast, Kaffee und einen Orangensaft – genau das Richtige für einen Start in den kalten Tag. Der Weg führt uns, wie auch üblich auf dem Jakobsweg, hinaus aus der kleinen Ortschaft, natürlich bergauf. Heute laufen wir alle mit einem gewissen Abstand zueinander, jeder möchte den Morgen für sich genießen und Zeit für sich haben. Der lange Weg mit seiner abwechslungsreichen, schönen und ruhigen Landschaft eignet sich immer wieder dafür, nicht nur körperlich zu wandern, sondern auch in Gedanken zu wandern. Und es ist beeindruckend, wie oft man hier mit sich selbst beschäftigt sein kann und wie viele unterschiedliche Bilder, Erinnerungen und Gedanken einem in den Kopf schießen. Und zwar in Bruchteilen von Sekunden. Und beachtlich dabei ist, dass es ständig neue Erinnerungen und Gedanken sind.

Selfie kurz nach Torres del Rio – ab jetzt pilgert jeder für sich

Während wir miteinander, gemeinsam einsam pilgern, steigen auch mir wieder Bilder und Gedanken in den Kopf. Erstaunlich, welche Dinge dabei ans Licht kommen können, die bereits Dekaden zurückliegen. Dinge, an die man seit Jahren nicht mehr gedacht hat und die einem mitten in Spanien bei einer Pilgerreise bewusst werden. Als ob der Jakobsweg tief in die Schubladen des Unterbewusstseins greift, den untersten Stapel an verstaubten Erinnerungen herauszieht und fröhlich damit vor deiner Nase herumwedelt. Und das Papierzeug dann quer durch den ganzen Raum wirft. Und dir dabei frech ins Gesicht schreit: „Hier, wir spielen ein Spiel: 500 Erinnerungen heb auf“. Und während ich jede einzelne Erinnerung aufhebe und versuche, diese zurück in die entsprechenden Schubladen zu sortieren, bleibe ich dennoch bei der ein oder anderen unweigerlich länger hängen und schaue sie mir genauer an.

Es heißt immer, jeder hat sein Päckchen zu tragen. Jeder hat seine eigene Vergangenheit. Gute und schlechte Erinnerungen. Und oftmals wissen wir nicht um das Gewicht des mentalen Päckchens (oder den Rucksack), dass unser Gegenüber mit sich herumträgt. Und jeder empfindet dieses Gewicht als unterschiedlich schwer, unterschiedlich belastend und kann damit auch unterschiedlich weit laufen.
Heute fühlt sich der echte Rucksack auf meinem Rücken erstaunlicherweise leichter an als sonst – der mentale Rucksack der Vergangenheit dafür umso schwerer.
Mein Kopf rotiert um die Fragen, welchen Einfluss unsere Familie auf unsere Persönlichkeit, unser Verhalten, unsere Gedanken und Emotionen hat. Wie sehr uns unsere familiäre Vergangenheit beeinflusst. Was gewesen wäre, wenn ein Familienleben normal, behütet, liebevoll verlaufen wäre. Warum uns selbst nach Jahren der fehlenden familiären Kontakte kleine Lebenszeichen noch aus der Bahn werfen können. Warum die Familie, gewollt oder ungewollt, einen solchen Einfluss auf uns nimmt – und wie wir diesen, teils auch toxischen Einfluss, mindern können. Verdrängen? Versöhnen? Akzeptieren und loslassen?
Blut ist manchmal eben doch nicht dicker als Wasser, sondern von Zeit zu Zeit einfach eine ziemlich undefinierbare und wirre, braune Pampe.

Willkommen in La Rioja – Königreich des Rotweins

Nachdem ich eine Weile in mich gekehrt bin und die Natur um mich herum vergesse, ruft Aurelio von hinten und rüttelt das Gedankenmurmeltier einmal kräftig durch. Und ich schaffe es wieder, mich auf die wunderbare Landschaft, das fantastische Wetter und auf den Weg zu konzentrieren und alle das zu genießen. Während wir nun wieder zu dritt pilgern, sammelt Ivan hier und da Müll vom Weg auf und verstaut ihn in einer kleinen Plasitktüte. Es ist erstaunlich, dass auch hier eine nicht unbeträchtliche Menge an Hinterlassenschaften zu finden ist. Von Masken über leere Plastikflaschen bis hin zu benutztem Toilettenpapier ist alles zu finden.
Liebe Pilger, nehmt doch bitte euren Müll, euren Dreck und euren Scheiß (inkl. dem dazugehörigen braun gestreiften Papier) mit und werft ihn in die Mülltonne – nach mir die Sintflut ist kalter Kaffee, einfach scheiße und gehört hier nicht hin. Ende! Während Ivan fröhlich vor sich hin sammelt, fällt ihm nach einer kurzen Zeit sein Telefon aus der Tasche und knallt mit einem ordentlichen Schwung auf den Boden – Display gerissen, die Touchfunktion ist nur noch mit viel Geschick nutzbar. Ivan ist sehr geknickt und versucht, eifrig auf dem Telefon zu tippen und den wichtigsten Kontakten eine Nachricht zu hinterlassen. Für den Ernstfall speichere ich mir seine wichtigsten Kontakte ein, sodass er diese jederzeit erreichen kann. In den nächsten Tagen kann Ivan nur noch eingeschränkt fotografieren und sein Smartphone nutzen.
Wir folgen nun dem Weg, der sich landschaftlich öffnet, langgezogen ist und einen wunderbaren Ausblick bietet, Richtung Viana, unserem ersten Stop des Tages.

Wie viele Städte auf unserem Weg ist auch in Viana die hiesige Kirche eine der Hauptsehenswürdigkeiten. Die Kirche „Santa Maria“ ist im gotischen Stil gehalten und vor der Kirche machen Aurelio und ich ein Selfie mit einem versteinerten Pilger, der hier offenbar schon ein Weilchen festsitzt. Im Anschluss genießen wir unsere Mittagspause bei der lieb gewonnenen Tortilla de Patatas, während Ivan sich nebenan Tabaknachschub organisiert.
Während Aurelio und ich kurze Zeit später im Laufschritt bereits die Stadt verlassen, schlendert Ivan fröhlich hinterher. Ihr ahnt es bereits, Feldweg folgt nach Stadtgeflüster. Und dieses Mal hat er es in sich – wir erreichen bald eine Autbahnbrücke, Ivan gewinnt den üblichen Wettlauf hinauf – natürlich mit großem Abstand (wie zum Teufel schafft er das mit seine 13kg auf dem Rücken und einer Raucherlunge – Sportler ist wer raucht und trinkt und trotzdem seine Leistung bringt?)
Kurz darauf erreichen wir die spanische Region La Rioja, bekannt für guten Rotwein (und halleluja, er ist fantastisch, trocken, rot und leckomio gut!) Nach mittlerweile fast 6 Tagen ein kleiner Meilenstein und ein erstes Gefühl des Vorankommens, des Weiterkommens und des Erfolgs – heute stoßen wir darauf an!

Logroño – Zentrum des Weins

Nach weiteren Feldwegen und sengender Hitze auf unserem Nacken sehen wir in weiter Entfernung größere Häuser und die Hauptstadt der Region La Rioja – Logroño. Mit mehr als 150.000 Einwohnern die bisher größte Stadt auf unserem Weg und ein absoluter Kulturschock – so viele Menschen auf einen Haufen, große und laute Straßen, typische Stadtgeräusche. Am Abend vorher und der Diskussion, wo wir denn heute schlafen werden, fiel Logroño relativ schnell aus der Wertung, da wir den Großstadtflair tagsüber genießen können, aber am Abend bei der Ankunft etwas Ruhigeres brauchen. Also stapfen wir mit mittlerweile müden Beinen durch die große und laute Stadt (und dennoch sehr attraktiv und lebendig). An einem großen Kreisverkehr mit einem Springbrunnen in der Mitte des Kreisels entscheiden wir uns, in einer kleinen Bar eine längere Mittagspause einzulegen, bevor uns die letzte Tagesetappe bevorsteht.

Wir verweilen ein wenig, danach folgen wir einer der langgezogenen Hauptraßen, hinaus aus der Stadt. Vorbei an immer kleiner werdenden Häusern, bis wir einen großen Park erreichen. Hier und da grüßt ein Eichhörnchen und wir sehen vor uns bald einen großen, stillen See, die Sonne spiegelt sich warm und schön darin. Wir umkreisen den See, verirren uns für eine kurze Zeit ein wenig und folgen dem Weg bald leicht bergauf. Am Wegesrand sind viele Holzkreuze an den Zäunen befestigt – jedes einzeln von einem der vielen Pilger sorgsam befestigt. Und nach langen, langen Feldwegen erreichen wir unser Tagesziel – Navarette – hier werde ich gleich meinen ersten echten Rioja Rotwein trinken!

Navarette – wo die Ziele neu definiert werden

Ankunft in Navarette – und platte Füße. Wir sind vollkommen erledigt und froh, endlich an unserem Hostel angekommen zu sein. Schneller Check In, heiße Dusche, kurzes Schläfchen. Wir haben ein Zimmer mit einem Etagenbett und einem Einzelbett. Ich schlafe im Etagenbett oben. Nach einer kurzen Diskussion, wie weit es am nächsten Tag gehen soll, setze ich mich durch. 17km statt 38km, mehr ist morgen nicht drin. Ich laufe nicht gegen etwas an (zum Beispiel Zeit oder den müden Körper), sondern für und vor allem mit mir auf etwas zu (das könnte bereits das Tagesfazit sein). Wir starten 20 Uhr, um uns für den Tag ausgiebig und kulinarisch zu belohnen. Nachdem Aurelio uns durch die halbe Kleinstadt getrieben hat, entscheiden wir uns gegen 20.30 Uhr für eine kleine ruhige Cafeteria, ca. 200 Meter von unserem Hostel entfernt. Wir genießen fantastisches und reichhaltiges Essen und ich stoße mit Aurelio an, mit einem fantatischen Rotwein aus der Region (hier und jetzt stelle ich fest, wie gut trockener Rotwein schmecken kann).

Aurelio und ich sagen fast zeitgleich, dass wir nun bereit wären, mehr als 17km zu pilgern und Ivan muss herzlich lachen. Nachdem Aurelio ein wenig mit der Kellnerin geflirtet hat und wir uns ausgiebig gestärkt haben, schleichen wir gegen 22 Uhr zurück zum Hostel und springen, jeder für sich, zufrieden und gestärkt ins Bett. Gute Nacht!

Zusammenfassung Tag 6

Torres del Rio – Viana – Logroño  – Navarette
Entfernung: 32,8 km
Gesamtstrecke: 173,1 km
Höhenmeter aufwärts: 661 m ; Höhenmeter abwärts: 607 m
minimale Höhe: 367 m ; maximale Höhe: 577 m
Dauer: 8,5 h
Fazit des Tages:
„Auf dem Camino wirst du mehr finden, als du verlierst“

Published inJakobsweg - Camino Frances

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Camino - auf dem Jakobsweg
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