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Tag 5 | Más vino, peregrino!

Last updated on Juli 11, 2022

Geschätzte Lesedauer: 11 Minuten

Blockbuster der Gedanken

Müde Beine, müde Füße, müder Körper. Und dennoch ist der Geist hellwach. Im Sekundentakt tauchen Bilder der letzten Tage vor meinem inneren Auge auf. Bilder der letzten Jahre. Bilder von Menschen, die mein Leben geprägt haben, verändert, verbessert. Oder von Menschen, die einen negativen Einfluss nehmen wollten, mir schaden, mich hindern. Und dennoch liege ich jetzt hier, mitten in der Nacht, hellwach. Und habe vielen dieser negativen Erfahrungen und Erlebnisse getrotzt und stehe aufrecht (oder besser liege aktuell) hier, mitten in Spanien und mache mich auf eine neue Reise. Und komme trotz eines erschöpften Körpers nicht zur Ruhe – die letzten Nächte waren ebenfalls sehr durchwachsen und geprägt von Rückblickdauerschleifen. Welchen Zweck versucht der eigene Geist mit solchen Blockbustern der Vergangenheit zu erreichen? Sucht er (oder sie?) nach Antworten, nach Fehlern in der Matrix oder möchte er (oder sie) ab und an einfach mal sagen „Hey schau her – das da, das lief richtig bescheuert. Hier hast du aber mal voll in die Tonne gegriffen, vielleicht sollten wir das nochmal aufleben lassen und wenn wir schon dabei sind, schnapp dir Popcorn und Cola, ich habe da noch mehr im Regal stehen. Hast du überhaupt daraus gelernt? Warum hast du es nicht anders gemacht? Jetzt liegst du hier und pilgerst fröhlich vor dich hin? Was erwartest du dir denn davon?“

«Wir denken zu viel und fühlen zu wenig.»

Charlie Chaplin

Lieber Geist – jetzt halt doch bitte, nachts 4 Uhr, einfach die Schnauze. Du nervst, bist nicht hilfreich und offensichtlich nicht der beste Wanderpartner. Also zieh‘ Leine, geh‘ Schafe zählen und komm wieder, wenn du hilfreiche Aussagen mitbringst!
Schon mal versucht, ihm (oder ihr) das so direkt zu sagen? Klappt, mal mehr, mal weniger, gut 🙂

Im Reich der Dickhäuter

Kurz vor sieben Uhr hält es uns nicht mehr in den Betten, wir packen unsere Sachen zusammen, Aurelio betreibt tägliche Pflege der Füße, denn er hat mit einigen Blasen zu kämpfen. Überraschenderweise habe ich in den letzten Tagen kaum Probleme gehabt – bis auf einen kleinen Ausreißer – die schweren und fetten Wanderschuhe machen sich hier mehr als bezahlt. Gut eingelaufen sind sie mir auf dem langen Weg ein absolut zuverlässiger und treuer Begleiter. Beim Frühstück mit dem Besitzer der Herberge erfahren wir, dass es sich bei diesem Gebäude um eine ehemalige Ledergerberei handelt, an den Wänden sind überall alte Werkzeuge zu erkennen. Darüberhinaus verlief ein Teil der ehemaligen Stadtmauer Estellas entlang der Hausmauer des Gebäudes. Gelebter Geschichtsunterricht bei prasselndem Feuer und Frühstückstoast!

Gegen halb neun starten wir unsere Tour in die Kälte Spaniens und folgen dem Weg durch die Stadt und hinaus aus der Stadt. Im Rücken die Sonne, vor uns wieder ein Weg, leicht bergauf. Auf dem Weg hinaus aus der Stadt wird ein Hund fast von einem Auto angefahren, konnte aber noch rechtzeitig ausweichen. An einer Quelle füllt Ivan seinen Trinkbehälter mit Wasser – vergisst dabei allerdings, dass dieser sehr instabil ist und verteilt die Hälfte davon auf dem Boden und seiner Hose. Dank strahlender Sonne (und das bereits fünf Tage in Folge!) trocknet dieses Missgeschick allerdings sehr schnell. Der Blick zurück offenbart uns einen wundervollen Blick auf Estella und den kurzen Aufstieg, der Blick nach vorn offenbart uns allerdings noch etwas viel Besseres. Denn im Wein liegt die Wahrheit – und der Wein fließt in Spanien!

Frühshoppen im Auftrag der Spiritualität

Immer und immer wieder werde ich das Wort Feldweg nutzen, denn zum Großteil besteht der Jakobsweg genau daraus – aus Feldwegen. Mal steinig, mal flach, mal kilometerlang und einsam. Und manchmal mit einem wunderbaren Ausblick und kleinen Überraschungen.
Gegen 9.30 erreichen wir auf unserem kleinen Feldweg das Weingut „Bodegas Irache“ mit dem berühmten „Fuente del vino“. Hier fließt der Wein aus einem kleinen WasserWeinhahn – die Eigentümer des Weinguts stellen den Pilgern auf dem Jakobsweg täglich hundert Liter Wein zur freien Verfügung. Morgens halb zehn in Spanien – na dann Prost und Salud! Ich schraube den Deckel meiner Trinkflasche ab und gieße mir einen großen Schluck der roten Gastfreundschaft ein. Rotwein zur Vormittagszeit – wahrlich wunderbar zaubert er mir ein breites Grinsen ins Gesicht.

Aurelio zapft kalten Rotwein aus dem Hahn


Das Ganze lässt sich übrigens live verfolgen, das Weingut hat extra eine Webcam eingerichtet. Hier kann man den Pilgern beim Genuss der spanischen Köstlichkeit zuschauen. Zugegeben, kalter Rotwein schmeckt nicht besonders und wäre einem echten Sommelier ein Dorn im Auge. Drauf gepfiffen – absolut große Klasse und ein Highlight an spanischen Gesten. Aurelio lässt es sich nicht nehmen, während unserer kleinen Genusstour seine Tochter anzurufen. Denn zufälligerweise haben das Weingut und sie etwas gemeinsam – den Namen Irache. Für alle Pilger, die zu viel oder zu wenig Wein hatten, gibt es direkt neben dem Weinhahn natürlich auch einen klassischen Wasserhahn – und er ist nicht nur Attrappe, sondern funktioniert tatsächlich 🙂

Zur inneren Mitte

Nach dem kleinen Umtrunk und einem leichten Schwips holen wir uns im nahegelegenen Weingut den ersten Stempel des Tages ab. Der Weg, erst meist im Schatten und frostig, führt uns langsam und stetig aufwärts und vorbei an weiteren Weinreben. An einem kleinen Aussichtspunkt nutzen wir die Pause, um eine kleine Yogaeinheit zu veranstalten. Vom herabschauenden Hund bis hin zur klappernden Gazelle (was auch immer das sein soll 🙂 ) ist alles dabei. Auf dem weiteren Weg entdeckt Aurelio im kleinen Örtchen „Villamayor de Monjardín“ einen Abzweig zu einer Bar – der Spanier braucht also wieder eine Pause und ein kühles Getränk. Nun gut, wir sind ja nicht auf dem Weg, um möglichst schnell anzukommen, sondern um den Moment zu genießen, also ab auf die sonnige Terrasse.

Aurelio genießt die Pausen ausgiebig, meist mit einem kühlen Pils und einer intensiven Unterhaltung mit den Barbesitzern. Die Sonne hat nun zur Mittagszeit ihr volles Potential erreicht und drückt uns tief in unsere Stühle. Ich ergebe mich nun auch meinem Schicksal und nutze die fast 40 Minuten auf der fast leeren Terrasse, um mich zu erholen und dem Körper ein paar Momente der Auszeit zu gönnen.

Und was lernen wir daraus?

Wir setzen unseren Weg kurz nach 13 Uhr fort, jetzt folgt eine längere Etappe ohne Pause und ich setze mich von Ivan und Aurelio ab. Ich spüre, dass es Zeit ist, mich meinen Gedanken hinzugeben und mich mit ihnen auseinanderzusetzen. Der Jakobsweg führt uns nicht nur vorwärts und voran, er zeigt uns auch regelmäßig den Weg zurück, zu unseren Erlebnissen und Handlungen. Und er gibt uns die Möglichkeit, uns damit kritisch und versöhnlich auseinanderzusetzen. Zu erkennen, was wir aus den negativ erscheinenden Erlebnissen lernen konnten. Lernen können. Und was Gutes daraus entstanden ist.
Mir erscheinen Bilder von beruflichen Misserfolgen, von früheren Freundschaften und der Frage, was ich hätte anders machen können, anders machen müssen. Welche Entscheidung ich heute anders treffen würde. Und was andere Entscheidungen für Auswirkungen gehabt haben könnten. Aber reiner Konjunktiv ist auf Dauer wenig hilfreich – ebenso wenig hilfreich wie der kritische Geist 4 Uhr morgens.

Während ich dem langen und einsamen Weg weiter folge, trifft mich allerdings auch die Erkenntnis, dass positive, gute Erfahrungen und Entscheidungen oft auch ein Resultat aus negativen Erlebnissen sind. Dass tiefgreifende Veränderungen oft stattfinden, nachdem ein „Schicksalsschlag“ uns förmlich dazu zwingt, unsere Augen zu öffnen. Und umzudenken. Und dass man, wenn der Nebel zu dicht erscheint, einfach weiterlaufen muss, um die Sonne zu erkennen. Man o man, was für ein philisophischer und nachdenklicher Tag mitten in Spanien. Und schau dich mal um, die Sonne scheint doch!

Vegetariano y alemán

Klick, Klack. Klick, Klack. Klick, Klack.
Die Geräusche werden nach und nach immer lauter und ich werde aus meinen Gedanken gerissen. Aurelio, lange Zeit weit abgeschlagen und hinter mir, holt mich mit seiner unverwechselbaren Gangart und Energie ein. Während ich mit meinen Gedanken beschäftigt bin und einen kurzen Moment daran denke, einfach aufzuhören und nicht weiterzugehen (der Körper ist einfach müde und ich bin heute einfach platt), zeigt mir der alte Spanier, dass es immer weitergeht. Also stapfen wir gemeinsam im Gleichschritt den Weg entlang, die Sonne im Nacken, den Schweiß auf der Stirn. Kurz nach 14.30 Uhr erreichen wir unser (eigentlich geplantes) Etappenziel für heute: Los Arcos. Hier wollen wir in der hiesigen Pilgerunterkunft unsere Zelte aufschlagen – doch wieder werden unsere Pläne durchkreuzt.

Im Winter hat die hiesige Pilgerherberge geschlossen – die nächste Möglichkeit liegt noch weitere 7km von uns entfernt. Genervt und erschöpft stapfe ich durch die kleine Ortschaft, Aurelio gut gelaunt neben mir, Ivan schlurft uns hinterher.
Als wir durch die Gassen stadtauswärts pilgern, treffen wir erstaunt auf unseren verrückten Briten, der am Stehtisch einer Bar steht und uns zuwinkt.
Aurelio ruft (erneut) nach einer Pause und möchte hier in Los Arcos bereits ein großes Menü verspeisen. Im hiesigen Lokal angekommen, erwähnt er (wie jedes Mal bisher auf unserer Reise), dass ich Vegetarier sei und aus Deutschland komme. Meine Laune ist nun am Tiefpunkt, ich halte es nicht für wichtig, ständig zu erwähnen, woher jemand kommt und was man isst. Also entscheide ich mich dazu, nur einen kurzen Stopp einzulegen und setze mich gemeinsam mit Ivan an die Bar – Aurelio verschwindet ins innere des Restaurants in einen zweiten Raum. Nach einem kühlen Getränk und deutlich besserer Laune treten Ivan und ich die letzten Kilometer des Tages an. Und auch hier wird der Weg am Ende eine Überraschung für uns bereithalten…

Die Türme am Fluss

Der Weg fühlt sich nun leichter an, unbeschwerlicher, trotz der körperlichen Strapazen in den letzten Tagen. Es hätte sich falsch angefühlt, auf Aurelio zu warten. Ivan und ich unterhalten uns zwanglos über die richtige Art der Ernährung und darüber, welche Musik wir wohl am besten hören, wenn wir in Santiago de Compostela ankommen. Laut einiger Berichte von Pilgern steht kurz vor der Kathedrale in Santiago tagsüber ein Dudelsackspieler an einer Unterführung – kein schlechter Empfang nach knapp 800km Pilgerreise.
Wir nutzen einige Paletten am Wasser, um eine kurze Rast einzulegen und im Anschluss ein kleines Wettrennen bergauf zu veranstalten. Ivan gewinnt (und das wird nicht das letzte Mal sein). Wichtig zu erwähnen ist hierbei, dass er regelmäßig raucht und einen deutlich schwereren Rucksack bei sich trägt – und mich trotzdem abzieht 🙂

Kurzer Stopp ca. 2km vor unserem Etappenziel

16.30 Uhr – wir erreichen unser ungeplantes Etappenziel für heute – Torres del Rio – die Türme am Fluss. Wir queren die Brücke zum Dorf und biegen direkt hinunter zum Fluss ab. Kurz darauf baumeln unsere müden und pochenden Füße im kalten Wasser – der Weg hierher hat sich gelohnt, die zusätzlichen 7km haben einen versöhnlichen Abschluss gefunden.

In Torres del Rio können wir sogar zwischen mehreren Pilgerunterkünften wählen und entscheiden uns kurzerhand für die Herberge „La Plata de Oca“, ein Stück den Berg hinauf. Die Kosten für die Unterkunft betragen inkl. Abendessen und Frühstück 25€. Bereits beim CheckIn in unser Zimmer in der unteren Etage der Herberge stellen wir fest, dass die Räume arschkalt sind, die kleine Heizung im Raum hat keine Chance, dagegen anzukämpfen. Und wieder zeigt sich ein Vorteil, wenn man im Winter pilgert. Da die obere Etage komplett leer ist, schnappe ich mir von einigen Betten ein paar zusätzliche Decken und eskortiere sie sicher in unseren Raum.

Es folgt der Traum des Pilgers – eine heiße Dusche, um den Körper aufzuwärmen und ihm einen kurzen Moment der Entspannung zu gönnen. Nach einem langen Pilgertag hat man das Gefühl, dass man sich neben dem körperlichen Dreck auch manchmal mentale Unreinheiten abwäscht und den kleinen Gedankenteufel ein kleines bisschen weniger stinken lassen kann.

Andere Länder, andere Jahreszahlen

Ich nutze die Zeit bis zu Aurelios Ankunft, um ein wenig zu schlafen. Gegen 20 Uhr verabreden wir uns gemeinsam zum Abendessen im Restaurant der Herberge. Hier fallen mir einige Musikinstrumente auf – im Sommer ist hier sicher jeden Abend große Sause und volles Haus.
Der Wirt serviert uns jeweils einen großen Salatteller, Nudeln mit Bolognese (und der deutsche Vegetarier muss natürlich hier und da ein wenig aussortieren) und einen Joghurt als Dessert.
Selbst im kleinen Restaurant ist es ungemütlich kalt und mir graut es bereits jetzt vor der langen und kalten Nacht in unserem kleinen Zimmer.

Abendessen im Restaurant der Pilgerunterkunft – in dicken Winterklamotten

An unserem Tisch sitzt auch Ricky aus Korea und berichtet uns, dass er normalerweise Pilot ist und weltweit unterwegs ist. Durch die Coronakrise allerdings musste seine Airline starke Einschnitte vornehmen und ihn zwangsbeurlauben. Von Ricky erfahren wir außerdem, dass die Geburtstage in Korea anders gezählt werden als beispielsweise bei uns in Europa. Jedes Kind, welches in Korea auf die Welt kommt, ist ab diesem Zeitpunkt bereits ein Jahr alt. Darüberhinaus steigt das Alter jedes Jahr am 1. Januar um eins an. Ein Baby, welches also am 31.12. zur Welt kommt, ist einen Tag später bereits zwei Jahre alt. Verrückte Welt 🙂
Mit reichlich Essen und Wein im Bauch und ausgerüstet mit einer Wagenladung an Decken beenden wir den Tag gegen 22 Uhr. Eingepackt in meine Winterkleidung und eingehüllt in drei Decken sehne ich mich nach einer langen und erholsamen Tiefschlafphase. Gute Nacht – el frio in Torres del Rio…

Zusammenfassung Tag 5

Estella – Irache – Los Arcos – Torres del Rio
Entfernung: 29,2 km
Gesamtstrecke: 140,3 km
Höhenmeter aufwärts: 593 m ; Höhenmeter abwärts: 554 m
minimale Höhe: 427 m ; maximale Höhe: 676 m
Dauer: 8,5 h
Fazit des Tages:
„Angst, Sorgen, Schmerz. All dies ist wie ein dichter Nebel. Auch der schönste Himmel wirkt dadurch grau. Um den Himmel so zu sehen, wie er ist, gibt es nur einen einzigen Weg. Du musst durch den Nebel hindurchgehen. Nass werden. Und dich in der warmen Sonne aufwärmen“

Published inJakobsweg - Camino Frances

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