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Tag 4 | Der Duft von Lagerfeuer

Last updated on August 3, 2022

Geschätzte Lesedauer: 8 Minuten

Zitronenkuchen und kaputtes Glas

Ivan und ich wachen bereits vor 7 Uhr auf und packen übermüdet unsere Sachen zusammen. Wir hatten das gesamte Zimmer für uns, zwei weitere Pilger haben im Zimmer nebenan übernachtet. Natalia ist bereits aus dem Haus, doch sie hat uns eine kleine Überraschung gezaubert. Als wir in das Wohnzimmer der Pilger treten, steht auf dem Tisch ein selbstgebackener und noch fast warmer Zitronenkuchen mit persönlicher Botschaft. Hier und jetzt zeigt sich, warum eine von Pilgern privat geführte Unterkunft sooo viel wertvoller und schöner ist, als jede Gemeindeunterkunft (und im späteren Tagesverlauf wird sich zeigen, warum eine Gemeindeunterkunft auch für schlaflose Nächte sorgen kann…). Wir teilen den Kuchen in vier große Stücke auf (damit unsere Pilgernachbarn ebenso von der leckeren Köstlichkeit probieren können), zaubern uns einen zweitklassigen Kaffee und schreiben für Natalia eine persönliche Botschaft in ihr Gästebuch. Später erfahre ich, dass der Name Natalia „die zu Weihnachten geborene“ bedeutet. Und wahrlich, ihre Herberge fühlte sich warm und herzlich an.

Natalias selbstgebackener Zitronenkuchen – Ivan und ich sind begeistert und gerührt

Erinnert ihr euch an den verrückten Briten, dem ich in Pamplona zum ersten Mal begegnet bin (siehe hier meinen Beitrag dazu)? Als Ivan und ich uns mit Aurelio zum Frühstück in einer kleinen Bäckerei mitten in Puente la Reina gegen 8 Uhr treffen, sitzt der besagte Brite bereits in einer kleinen Ecke und wirkt auf mich wieder etwas neben der Spur. Aurelio berichtet uns, dass Freaky Great Britain (FGB, so nennen wir ihn auf unserem Weg) bis weit nach Mitternacht in der hiesigen Bar versackt ist und später nicht mehr in die Gemeindeunterkunft konnte – alles war verschlossen. Also hämmerte FGB fröhlich munter an die große Tür und hat damit alle Pilger wach und bei Laune gehalten.
Nachdem sich ein Pilger fand, der ihm die Tür geöffnet hatte, hat FGB gegen 2 Uhr nachts mitten in der Gemeinschaftsküche eine Flasche Rotwein fallen lassen und auf dem Boden verteilt. In diesem Sinne, Buen Camino, Peregrino!

Wenn große Bäume im Wind umkicken

Nach einem fantastischen Café con leche startet das Spanisch-Deutsche Trio in den Tag. Aurelio ist heute in besonders ausgeprägter „Tranquilo-Stimmung“ und zeigt sich von seiner fotografischen Seite. Alle paar Meter möchte er Fotos machen, von der Natur, von Ivan und mir. Ein bisschen verhält er sich wie ein stolzer Opa, der mit seinen beiden Enkeln auf Entdeckungstour unterwegs ist und keinen Moment verpassen möchte. Die Außentemperatur von -2° Celsius, die sich anfangs ungemütlich und kalt angefühlt hat, ändert sich durch die aufsteigende Sonne schlagartig. Bereits der vierte Tag in Folge mit Sonnenschein und blauem Himmel – einfach nur leck!


Wortherkunft „Leck“
stammt vom deutschen Wort „lecker“ und wird unter anderem verwendet als Ausdruck der großen Freude (wie in „Leck! Ein Regenbogen“) oder auch als abgewandelter Ausdruck des hervorragenden Geschmacks einer Speise („Wie ist das Schnitzel?“ – „Leckomio“)
In besonderen und einmaligen Momenten als Superlativ „superleck“ nutzbar


Meine Waden zeigen erste Ermüdungserscheinungen und die letzten Tage machen sich bemerkbar. Immer wieder mache ich kurze Dehnungsübungen und kämpfe mich gemeinsam mit meinen spanischen Pilgern in den Tag. Der Feldweg führt uns leicht bergauf in die kleine Stadt Cirauqui, was so viel wie „Kreuzotternnest“ bedeuten soll. (man beachte meine Aussagen über Schlangen, kurz und knapp wuuuääähhh!). Hier treffen wir zufällig Mark wieder, der sich allerdings nach einem kurzen Plausch verabschiedet und alleine weiterpilgert. Mark werden wir auf unserer Pilgerreise nicht mehr wiedersehen – er ist uns immer ein paar Schritte voraus. In Cirauqui können wir den ersten Stempel des Tages ergattern, in einer Art kleinem Durchgangsgewölbe – Ivan übersetzt die steinere Tafel im Gewölbe. Hier werden wohl nach wie vor Taufen durchgeführt.

Nachdem wir die kleine Stadt bergauf hinter uns lassen, folgt eine weitere Raterunde „wohin jetzt?“. Der Weg teilt sich auf, kein Wegzeichen zu erkennen – also im Zweifel wieder geradeaus, dem ursprünglichen Weg einfach folgen. Aurelio berichtet nun, dass er als kleiner Junge die Deutschen immer für groß und mächtig hielt, die Spanier hingegen für klein und kompakt. Nach einer kurzen Pause fügt er allerdings hinzu, dass große Bäume im starken Wind oft umknicken, kleine Bäume hingegen fest im Boden stehen bleiben und Widerstand leisten. Dabei muss er herzlich lachen.

Tortilla de Patatas

Der Weg vor uns wird nun landschaftlicher, einsamer und jeder von uns pilgert nun eine Weile für sich und mit einigem Abstand zu den anderen. Anfangs fühlt es sich etwas merkwürdig an, in Gesellschaft und dennoch alleine zu pilgern. Nach einer kurzen Zeit allerdings genieße ich diese Momente der Ruhe und der Zeit für mich allein. Auf unserem weiteren Weg liegt eine Art Ruheareal für Pilger, auf der rechten Seite unseres Weges. Voller schattenspendender kleiner Bäume, Sitzgelegenheiten und einer Art kleiner Bar. Menschenleer, aber im Sommer sicher einer DER Spots auf dem Jakobsweg, um sich zu erholen, Menschen zu treffen und ein kühles Getränk zu genießen.

Kleine „Rest Area“ mitten auf dem Jakobsweg, im Sommer wahrscheinlich ein HotSpot für Pilger

Die Sonne prasselt auf uns nieder und macht den Weg, trotz der landschaftlichen Leckerbissen, beschwerlich und träge. Dass es bereits im Winter so warm wird, habe ich nicht erwartet und ärgere mich ein wenig über die schwere Winterkleidung an meinem Körper und in meinem Rucksack. Nachdem wir eine gefühlte Ewigkeit dem langgezogenen Feldweg folgen, erreichen wir die kleine Ortschaft Lorca. Hier erfrischen wir uns an einem kleinen Brunnen und ich nutze die Gelegenheit, um mich auf das nahe gelegene Schaukelpferd auf einem Spielplatz zu setzen. So stelle ich mir Reiten vor 🙂

An der nahe gelegenen Sporthalle entdecken wir kurze Zeit später eine große Malerei: Santiago de Compostela, nur noch 643 km von uns entfernt. Ivan und ich schauen uns an und wissen nicht, ob wir lachen oder weinen sollen. Wir entscheiden uns dazu, in der Sporthalle eine Pause einzulegen. Hier esse ich zum ersten Mal Tortilla de Patatas – eine Art Omelett aus Eiern mit Kartoffeln und Zwiebeln. Und einfach nur leckomio. Genau das, was der Körper an langen Pilgertagen braucht – und auch fast täglich bekommen wird.

Tortilla de Patatas und ein kühles Bier – Mittagspause mitten in Spanien, die nicht besser sein könnte

Ich lasse mich von Aurelio dazu überreden, ein Bier mit ihm zu trinken (was schneller wirkt als erwartet und worauf ich in den nächsten Tagen zur Mittagszeit verzichten werde 🙂 ). Nachdem ich die Unkosten für unsere Pause für alle beglichen habe (und Aurelio wenig erfreut darüber war, dass ich ihn eingeladen habe), pilgern wir die letzten 5km unserer Tagesetappe bei bestem Wetter – jeder für sich und mit einem gewissen Abstand zueinander.

Das Haus am See Fluss

Während ich die letzten Kilometer der Tagesetappe so vor mich hinpilgere, steigt mir unweigerlich eine Erinnerung in den Kopf. Und ein Duft, wobei ich nicht herausfinden kann, woher er kommt. Nach Rauch, als ob jemand ein kleines Feuer macht. Ich habe das Gefühl, auf dem Weg zu einem alljährlich bekannten Event zu sein, dem Hexenfeuer. Ein Event, bei dem sich Freunde und Familie versammeln, um die bösen Geister zu vertreiben, gemeinsam zu trinken, zu plaudern. Ein Gefühl des jugendlichen Leichtsinns steigt in mir auf, ein Gefühl der Freude, gleich am Ziel anzukommen und meine Freunde und Familie zu treffen. Hier und jetzt sind Ivan und Aurelio meine Freunde und auch meine Familie – auf dem gemeinsamen Weg nach Santiago.

Ich erreiche gegen halb drei als erster unser Ziel, die „Hostería de Curtidores“ im kleinen Örtchen „Estella“. Ein wunderbar eingerichtetes kleines Hostel, direkt am Wasser gelegen. Gemütlich, urig, warm. Nachdem ich mein Bett bezogen habe, zieht es mich in das kleine gemütliche Wohnzimmer mit Kamin und Ausblick auf den kleinen Fluss hinter dem Haus. Der Körper schmerzt, die Füße brennen, der Geist ist höchst zufrieden. Mit dem Gefühl, seit Wochen unterwegs zu sein und dem Wissen, dass der Jakobsweg mehr als nur eine physische Erfahrung ist, schlafe ich für eine Stunde ein.

Auf medialen Abwegen

Der Besitzer der Unterkunft empfiehlt uns, in der Pizzeria „Simones“ unser Abendessen zu genießen. Wie schon öfter, machen wir uns vergeblich auf den Weg, denn auch hier sind aktuell die Tore verschlossen. Also irren wir ein wenig durch die überraschend große Stadt und entschließen uns nach einer halben Stunde, bei Dominos Pizza unser Abendessen zu verpeisen. Nicht typisch spanisch, aber typisch lecker 🙂

Opa Aurelio hat kostbares Bier verschüttet und wird zum Putzen verdonnert

Nach einem kurzen Verdauungsspaziergang spendiere ich uns allen noch ein Bier auf unserem Zimmer, die beiden Männer unterhalten sich mittlerweile vermehrt auf Spanisch. Als ich für ein paar Minuten in mein Smartphone tippe, rügt mich Aurelio, ich wäre zu viel mit meinen digitalen Medien beschäftigt. Mithilfe von Ivan mache ich ihm allerdings bewusst, dass ich nicht aktiv an der Unterhaltung der beiden teilnehmen kann und wir uns daher miteinander arrangieren sollten. Aurelio schaut kurz etwas grimmig, aber scheint meinen Einwand zu verstehen und stößt mit mir auf die letzten Minuten des Abends an. Kurze Zeit später stoßen wir erneut an, auf Aurelios Papa. Dieser ist, so berichtet uns Aurelio, noch mit 92 Jahren täglich eine große Runde spazieren gegangen – das hätte ihn fit gehalten.
Wir beschließen gegen 22 Uhr, schlafen zu gehen. Ob die Nacht dieses Mal ruhiger und erholsamer wird, als die letzten Nächte?

Zusammenfassung Tag 3

Puente la Reina – Cirauqui – Estella
Entfernung: 21,8 km
Gesamtstrecke: 111,2 km
Höhenmeter aufwärts: 567m ; Höhenmeter abwärts: 490m
minimale Höhe: 336m ; maximale Höhe: 496m
Dauer: 6 h 10 min
Fazit des Tages:
„Der Camino ist auch eine innere Wanderung, eine Art Rückblende durch das eigene Leben. Eine Auseinandersetzung damit, was man im Rucksack tragen möchte und was man versöhnlich zurücklassen kann“

Published inJakobsweg - Camino Frances

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Camino - auf dem Jakobsweg
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