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Tag 3 | Alegría

Last updated on Juli 11, 2022

Geschätzte Lesedauer: 10 Minuten

Bettchen, wechsle dich!

2.45 Uhr, es ist dunkel in unserer Herberge. Nach einer kurzen Tiefschlafphase werde ich durch Aurelios Schnarchen unsanft aus dem Schlaf gerissen. Nach einigen Minuten des Hin- und Herwälzens entscheide ich mich dazu, das Bett zu wechseln. Ein Vorteil, wenn man im Winter pilgert und die großen Pilgerunterkünfte viel Platz bieten. Ich schnappe mir meine Sachen und schleiche leise die Gänge entlang, weit weg von anderen Pilgern und Schnarchgeräuschen. Nachdem ich einen menschenleeren Gang gefunden habe, lege ich mich zufrieden auf eines der leeren Betten. Da ich noch keine Unterkunft (im spanischen auch „Albergue“ genannt) für den nächsten Tag habe, durchforste ich die Camino Ninja App und finde nach einigen Minuten meine Herberge für die Tagesetappe. Klein, gemütlich, authentisch eingerichtet, privat geführt.


Wortherkunft „Albergue“

Das Wort „Albergue“ (ausgesprochen Allberge) bedeutet übersetzt so viel wie „Herberge“ oder Unterkunft. Die Herberge setzt sich zusammen aus den Wörtern „Heer“ und „bergen“. Es handelt sich also im ürsprünglichen Sinn um Unterkünfte für Soldaten.


Die Etappe für heute: Pamplona – Puente la Reina – 24,2km. Meine Herberge: Die „Albergue Estrella Guia“ – mit ca. 20€ etwas preinsintensiver als übliche Pilgerunterkünfte, dafür privat geführt und die Bilder der Unterkunft von anderen Pilgern überzeugen mich sehr. Gebucht! Handy weg. Gute Nacht!

Wie ein Stier durch Pamplona

Ich wache halb acht auf – erholter und wacher als erwartet nach der gestrigen Tour. Die nächsten Tage und Wochen wird der morgendliche Ablauf meist der gleiche sein: Die müden Augen reiben, den Rucksack möglichst sortiert packen, auf die Frühstückssuche gehen, die ersten Jakobswegzeichen suchen und dann einfach drauf los pilgern. Ich stapfe also zurück zu Aurelio, denn hier liegen noch einige meiner Sachen. Das deutsche Paar von nebenan verabschiedet sich freundlich und wünscht uns eine gute Reise und einen „Buen Camino“. Aurelio und ich starten zeitgleich unseren Tag und beschließen, gemeinsam zu pilgern. Etwas ungewohnt fühlt es sich an, nicht allein zu pilgern und eine Begleitung an meiner Seite zu haben. Ein Gefühl der Sicherheit steigt in mir auf – trotz meiner fehlenden Spanischkenntnisse und Aurelios fehlender Englischkenntnisse können wir uns irgendwie mit Hand und Fuß (und der ein oder anderen Übersetzung dank Smartphone) verständigen und pilgern die ersten Minuten durch die schmalen Gassen von Pamplona. Schnell entscheiden wir uns, in einer hiesigen Bäckerei „Pastelería Iruña“ zu frühstücken. Bereits hier stelle ich fest, dass es von großem Vorteil ist, einen spanisch sprechenden Pilger an meiner Seite zu haben.

Die Bäckerei selbst ist sehr klein und es duftet herrlich nach frischem Brot und heißem Kaffee. Aurelio und ich genießen Café con leche und frischgebackene Croissants. Der Inhaber berichtet uns, dass in Pamplona jährlich das berühmte „Sanfermines“ stattfindet – das traditionelle Stierrennen durch die Gassen der Stadt bis zur großen Stierkampfarena. Ca. 850 Meter lang ist die Strecke, 6 Stiere werden durch die engen Gassen getrieben, jagen hunderten Menschen hinterher, tausende Schaulustige verfolgen das seltsame Spektakel.
Der Inhaber der Bäckerei führt uns eine Etage nach oben in einen großen Lagerraum und öffnet ein Fenster. Er zeigt auf die schmale Gasse, die nun zu sehen ist und berichtet, dass hier ein Teil der Strecke der Sanfermines langführt. Er berichtet mit einer großen Freude von diesem Spektakel, deshalb halte ich mich mit meiner Kritik über ein solches Spektakel zurück – denn immerhin findet am Ende des Spektakels ein blutiger Stierkampf statt – nicht selten endet dieser tödlich für das Tier. Nach einer guten halben Stunde ist es Zeit für Aurelio und mich, uns auf den Weg zu machen und wir verabschieden uns von dem freundlichen Bäcker und seiner kleinen Bäckerei.

Tu Tranquilo Felix, Tranquillo.

Auf dem Weg durch die Stadt laufen wir vorbei an einer Grundschule, hier wird der Straßenverkehr noch von der Polizei persönlich geregelt, statt einer Pausenklingel ertönt Musik und der Hof füllt sich mit Kindern und Lehrern. Weiter stadtauswärts führt uns der Weg an der Universität von Pamplona vorbei. Hier erklärt mir Aurelio den Unterschied zwischen den beiden Wörtern „año“ (gesprochen anjo) und „ano“ (geprochen ano). Hierbei steht das erste Wort für das Jahr, das zweite für den Anus 🙂 . Ich sehe Aurelio bei seinen Erklärungen herzlich lachen und unser Weg führt uns nun langsam hinaus aus der Stadt, weg von Häusern, über eine Autobahnbrücke immer weiter Richtung einsamer und ruhiger Feldwege, bald bergauf. Der gestrige Tag macht sich nun bemerkbar und ich entschuldige mich bei Aurelio für meine langsame Gangart und dafür, dass ich ihm offenbar zu langsam bin.

Kurz darauf bleibt er stehen, drückt mir den Zeigefinger fest gegen die Brust und sagt ernst „Tu tranquilo Felix, tranquilo.“ Übersetzt bedeutet tranquilo so viel wie ruhig, gelassen, unbekümmert. Er möchte mir klar machen, dass ich mir keine Gedanken über mein Tempo oder ihn machen solle. Ich soll einfach mein eigenes Tempo gehen, den Weg genießen und entschleunigen, einfach sein. Eine spanische Weisheit, die mich sehr berührt und mich meinen gesamten Weg begleiten wird. Quasi das Pendant zu Timon und Pumba, probier’s mal mit Gemütlichkeit, Hakuna Matata Espagna!

Auf dem Berg der Läuterung

Kurz darauf setze ich seinen Rat in die Tat um, reduziere mein Tempo und lasse Aurelio von Dannen ziehen. Ab jetzt folge ich dem langgezogenen Feldweg stetig bergauf. Nicht steil, aber dennoch viele hunderte Höhenmeter, die Sonne prasselt mir auf die Rübe, ich pilgere mittlerweile im T-Shirt und verfalle wieder in Gedanken. Erkenne, dass aus negativen Erfahrungen und Erlebnissen oft einzigartige und positive Momente und Erlebnisse entstanden sind. Dass Schmerz und schlechte Dinge auch ihren Grund haben. Dass ich im Rückblick für viele dieser negativen Erfahrungen dankbar bin, denn sie haben mich motiviert, etwas zu verändern, etwas anzugehen, aktiv zu werden. Hier, beim langgezogenen und einsamen Aufstieg auf dem Jakobsweg erkenne und fühle ich eine ehrliche Dankbarkeit für Negatives im Leben – es kann uns eine Möglichkeit zu Veränderung sein, zu neuen Ideen, neuen Handlungen, neuen Erfahrungen, neuen Menschen und einem neuen Blick auf uns selbst. Und dass all dies eine Möglichkeit ist, unseren mentalen Rucksack etwas leichter werden zu lassen.

Nach einem schweißtreibenden und langen Aufstieg folgt ein wunderbarer Ausblick und Weitblick auf die Landschaft. Ich erreiche pünktlich zur Mittagszeit die Gebirgskette „Sierre del Perdón“ (Berg der Läuterung). Hier befindet sich der bekannte eiserne Pilgerzug auf seinem Weg nach Santiago de Compostela. Eine eiserne Skulptur aus Pilgern, Eseln und Pferden.
Einer Legende zufolge soll sich hier ein Pilger aus Pamplona dürstend den Berg hinauf gekämpft haben. Am Gipfel angekommen, trifft er auf den Teufel, welcher ihm lebensrettendes Wasser anbietet. Im Gegenzug dafür soll der Pilger seinem Glauben abschwören. Der Pilger entscheidet sich jedoch, abzulehnen und dem Tod entgegenzublicken. Kurz darauf soll ihm Santiago begegnet sein und ihn zu einer rettenden Quelle Fuente de Reniega (Quelle der Abkehr) geführt haben.
Da ich ausreichend Wasservorrat in meinem Rucksack zur Verfügung habe, treffe ich weder auf den Teufel, noch auf Santiago und trete nach einer kurzen Pause den Weg abwärts an, die letzten 10 km Richtung Puente la Reina. Der Weg abwärts ist steil, sehr steinig und nicht ungefährlich. Hier heizen im Sommer auch viele „Pilger“ mit Fahrrad entlang – die heimischen Chirurgen wird’s freuen…

Der Weg abwärts des Sierra del Perdón – steinig, teilweise steil und nicht ungefährlich

Auf dem Weg bergab spüre ich nun meine Füße, Beine und den Rücken. Jeder Schritt ist gut überlegt, umknicken oder stolpern wäre weder hilfreich noch ratsam. Nach etlichen Minuten der erhöhten Aufmerksamkeit erreiche ich endlich einen geraden Feldweg.
Doch hier stelle ich erschrocken fest, dass ich seit einer gefühlten Ewigkeit auch keinem Wegzeichen mehr begegnet bin. Hier stellt sich nun die Frage: Zurück und bergauf quälen oder dem Weg weiter folgen und darauf hoffen, dass ich mich nicht verlaufen habe?
Energiesparmodus an, ich quäle mich doch jetzt nicht zurück, nur um später wieder umzukehren. 10 Minuten also weiter, den Feldweg entlang. Unsicher, zurückblickend, überlegend. Und dann bäääm – ein Wegzeichen! Wenn du nicht weißt, wohin es geht, einfach mal weiterlaufen und auf das Beste hoffen – läuft doch!

Die letzten Kilometer Richtung Puente la Reina pilgere ich wieder durch kleine Ortschaften und Dörfer, unter anderem durch Muruzábal und Obanos. Beides Gemeinden mit wenigen hundert Einwohnern, dafür mit eigenen großen Kirchen, einem Kindergarten mit hauseigenem Pferd und, unglaublich aber wahr, Menschen auf den Straßen! Die letzten Meter auf meinem heutigen Trip steigt die Vorfreude über die Ankunft, eine heiße Dusche in meiner heutigen Unterkunft und auf eine kleine, erholsame Pause.

Puente la Reina – Brückenromantik und brasilianische Gastfreundschaft

Ich erreiche die kleine Stadt Puente la Reina gegen 14.30 Uhr, pilgere vorbei an der „Albergue Municipal“ (übersetzt Pilgerunterkunft der Gemeinde, im Normallfall besitzt jede Gemeinde eine solche allgemeine Pilgerunterkunft) und laufe entlang der schmalen Gassen zu meiner heutigen Unterkunft „Albergue Estrella Guia“, hier empfängt mich Natalia herzlich und freudestrahlend. Sie berichtet, dass sie aus Brasilien stammt, den Jakobsweg selbst bereits gepilgert ist und sich danach entschlossen hat, eine Unterkunft für Pilger zu eröffnen. Um sie zu unterstützen, sie zu inspirieren und Teil des Jakobsweges zu werden. Ihre Herberge ist sehr herzlich und warm eingerichtet, überall erkennt man die Leidenschaft Natalias für den Jakobsweg.

«Es sind die Begegnungen mit Menschen, die das Leben lebenswert machen.»

(Guy de Maupassant, französischer Schriftsteller, 1850 – 1893)

Nachdem ich meinen Stempel erhalten habe, hält mir Natalia freudestrahlend mehrere kleine Karten entgegen.
Please Felix, choose one. Your heart will decide for whatever you need the most.
Also ziehe ich einer der kleinen Karten und drehe sie um.
„Alegría“ ist darauf zu erkennen, handschriftlich schön und sorgsam geschrieben.
„It’s a spanish word and it means happiness, in life and in everything you do. Buen Camino Felix!“
Es heißt, jeder wird auf dem Jakobsweg irgendwann Tränen vergießen, weinen, heulen, knietschen. Und Natalia hat es fast geschafft – aber eh! Nicht an Tag drei meines Jakobsweges – way to go!
Ich umarme sie und danke ihr von ganzen Herzem für diese wundervolle Geste. Und erzähle ihr, dass mein Name übersetzt so viel bedeutet wie „der Glückliche“.
Sie strahlt mich an und sagt nur „So you see – that’s what you need and what you can give.“
Hallo Tränendrüse – fahr‘ dich schnell wieder runter 🙂

Nachdem mir Natalia eine Empfehlung für mein Abendessen gegeben hat (die Bar „La Torreta“ , ca. 200 Meter entfernt) folgen die üblichen Ankunftsroutinen. Rucksack auspacken, Bett beziehen, heiß duschen – immer wieder ein Segen und ein Zeichen für den Körper, dass ich angekommen bin. Ich genieße die Ruhe allein auf der sonnigen Terrasse und schreibe wie jeden Tag nach meiner Ankunft in mein Reisetagebuch. Doch mit der „Ruhe“ und Einsamkeit in der Herberge ist es bald vorbei…

Hey, I am Ivan from Spain!

Kurz nach 16 Uhr höre ich Geräusche aus dem Zimmer, ein Pilger ist angekommen und begrüßt mich. Und ich erkenne ihn wieder – Ivan – der Pferdeflüsterer 🙂 . Er stellt sich nochmals kurz vor, hat ein breites Grinsen um Gesicht und ist sichtlich zufrieden, endlich angekommen zu sein. Wir plaudern kurz über die schöne Herberge, Natalias Herzlichkeit und den weiteren Verlauf des Tages. Nachdem wir uns gemeinsam für die von Natalia vorgeschlagene Bar verabredet haben, nutze ich die restliche Zeit für einen kurzen Spaziergang durch Puente la Reina und ihre berühmte Brücke, welche den gleichen Namen trägt wie die Stadt.

Die Brücke „Puente la Reina“ im gleichnamigen kleinen Städtchen

18.30 Uhr – Zeit für ein ausgiebiges Abendessen. Dieses Mal hat die Bar geöffnet (also heute keine Ramen aus dem Plastikbecher 🙂 ) und ich setze mich, zunächst allein, an einen Tisch. Der Wirt empfiehlt das Pilgermenü für 12€, also 3 Gänge exkl. Rotwein. Während ich meinen ersten Gang alleine verpeise (grüne Bohnen mit Kartoffeln), gesellt sich zu meiner großen Freude Aurelio zu mir und bald komplettiert Ivan unsere heitere Runde. Wir genießen nun rote Bohnen mit Brot, sprechen über unseren Tag. Ivan fungiert hierbei immer wieder als lebendes Übersetzungstool zwischen mir und Aurelio, von Zeit zu Zeit plaudern die beiden auch auf spanisch (was nach einiger Zeit zum Problem wird, ich verstehe einfach kein Wort Leute!). Während Aurelio von seinem Marathon aus dem letzten Jahr und seinen Erlebnissen als Bergsteiger berichtet, gesellen sich Mark (der Podologe aus Irland) und der verrückte Brite aus Pamplona an den Tisch neben uns dazu. Der Brite ist bereits mehr als angetrunken, kaum zu verstehen und wird in der Gemeindeunterkunft später noch für ausreichend Ärger sorgen (die verrückten Briten wieder).
Nachdem sich unser Trio für den nächsten Tag zur gemeinsamen Tour verabredet hat und Aurelio für uns alle noch je ein Lottoticket kauft, verabschieden wir uns aus der Bar und voneinander.

Grüne Bohnen, Kartoffeln, Brot und Rotwein – des Pilgers Abendmahl im „La Torreta“ in Puente la Reina


Ivan und ich sitzen noch bis lang nach Mitternacht auf der Terrasse und sprechen über unsere Gründe für den Jakobsweg, über die nächsten Tage und was uns nach dem Jakobsweg wohl erwarten wird. Ein Pilger hat ihm gestern einen Spruch auf den Weg mitgegeben, welchen Ivan nicht mehr aus dem Kopf bekommt. Sinngemäß lautet dieser:
„Dein eigener, wahrer Weg beginnt dann, wenn dein Jakobsweg endet.“
Mit diesen Gedanken und Worten ziehe ich kurz darauf das Rollo meines Bettes hinunter und gerate in einen weiteren unruhigen Schlaf.

Zusammenfassung Tag 3

Pamplona – Muruzábal – Obanos – Puente la Reina
Entfernung: 24,2 km
Gesamtstrecke: 89,4 km
Höhenmeter aufwärts: 520 m ; Höhenmeter abwärts: 626 m
minimale Höhe: 349 m ; maximale Höhe: 758 m
Dauer: 6 h
Fazit des Tages: „Tu tranquilo Felix, tu tranquilo. Alegría“

Published inJakobsweg - Camino Frances

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Camino - auf dem Jakobsweg
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