Last updated on August 10, 2022
Geschätzte Lesedauer: 7 Minuten
Wenn’s unten wackelt, wackelt’s auch oben
7.30 Uhr – wir haben heute einen kurzen Tag vor uns und sind daher ein paar Minuten länger wach geblieben. Allerdings stelle ich wieder fest, dass ein Doppelstockbett nicht vor den Gesetzen der Physik Halt macht. Wenn sich also der Schlafpartner unten hin und her bewegt, dann wackelt das Bett auch oben. Und so ging es die ganze Nacht – nichts mit atemlos durch die Nacht – schlaflos durch Seatlle triftt es eher. In meinem Fall durch Navarette. Aber dank der eindringlichen Bitte an Aurelio, das Geplapper am Morgen auf ein Minumum zu reduzieren, schlackern mit die Ohren weniger als vorgestern in Torres del Rio. Ich bin gespannt, was ich auf der (ungewohnt) kurzen Tour heute alles entdecken und sehen werde. Wir starten also kurz nach 8 Uhr zur hiesigen Bäckerei und genießen die Klassiker zum Frühstück. Pünktlich mit dem Glockenschlag 9 Uhr verlassen wir die kleine Ortschaft und der Wind pfeift uns heute ordentlich um die Ohren. Trotz des blauen Himmels und Sonnenschein ist es ziemlich ungemütlich, denn der Wind pfeift uns direkt ins Gesicht. Bei schlechtem Wetter und Regen ist das hier sicher kein Vergnügen und wenig spirituell. Wir folgen erst der Straße, später einem Feldweg und erreichen bald eine Steinansammlung, welche von Pilgern über Jahre hinweg erweitert wurde.
Auch ich lege einen Stein aus der Umgebung dazu (und hier noch etwas zu finden ist gar nicht so leicht, denn alle Steine liegen ja bereits auf einem Haufen) und verweile einen kleinen Augenblick. Früher dienten diese kleinen und großen Steinhaufen offenbar der Wegführung. Ihnen wird allerdings auch nachgesagt, im Zusammenhang mit Schmerz und Leid eines jeden einzelnen Pilgers zu stehen, der einen Stein ablegt. Eine Art Ritual der Reue, das Ablegen des Steines symbolisiert eine Art Loslassen schmerzhafter Erinnerungen und Erlebnisse. Klingt komisch, aber eine gewisse Anziehung und Energie kann ich diesen Steinansammlungen nicht absprechen (ob ich wohl zu viel Wein hatte oder langsam die Spiritualität entdecke?)
Das ist Kunst
Unser Weg führt uns nun flach entlang grüner Wiesen und zu unserem ersten Etappenziel für heute – Ventosa. Auf dem Weg dorthin entdecken wir bald ein Gemälde, dass einen kleinen Jungen zeigt, der auf den vor ihm liegenden Berg schaut. Auf der Rückseite des Gemäldes ist ebenfalls ein Kunstwerk zu entdecken und wir bleiben für einige Minuten stehen, um es zu betrachten. Auf dem Jakobsweg finden sich eine Vielzahl solcher Kunstwerke, sei es auf großen Leinwänden oder auch auf großen Häuserwänden, zum Teil riesig groß und sehr beeindruckend gestaltet. Selbst in den größeren Städten finden sich auf riesigen Häuserwänden Gemälde, die vom Jakobsweg erzählen.
Kurze Zeit später erreichen wir Ventosa, eine sehr kleine Ortschaft, aber mit einer schönen kleinen Bar – Zeit für eine Pause. Ich versacke in meinem bequemen Stuhl und möchte hier ewig verweilen. Mein Körper ist müde von den letzten Tagen, der Kopf ist voll mit Bildern, Gedanken und ich fühle mich heute wenig motiviert, weiterzulaufen. Ich denke darüber nach, wie mein Weg ohne Aurelio und Ivan bisher verlaufen wäre und bin sehr dankbar, die beiden als meine Begleiter zu wissen. Bevor ich aufgebrochen bin, hatte ich eine große Angst, den Weg allein bestreiten zu müssen, niemanden kennenzulernen geschweige denn, überhaupt jemandem zu begegnen (hey, ich pilgere mitten im Winter und das ist sicher nicht ganz normal). Dank meiner beiden Pilgerpartner gelingt es mir, mich immer wieder auf den Weg zu besinnen, Auszeiten vom Gedankenmurmeltier zu nehmen und, dank Aurelio, auch auf ausreichende und wichtige Pausen zu achten (denn allein würde ich wohl kaum alle paar Kilometer irgendwo verweilen, Café trinken und einfach nur entspannen).
Der Stein der Weisen
Nach einer fast einstündigen Pause in Ventosa machen wir uns wieder auf den Weg, hinaus aus dem kleinen Ort und auf den Jakobsweg. Und wieder kreisen die Gedanken, als ob der kleine Teufel im Kopf nur darauf wartet, bis ich mich auf den Weg mache und keine Ablenkung mehr durch Aurelio und Ivan habe. Und der kleine Teufel fasst die Dinge heute sehr gut und kurzgefasst zusammen. Er gibt mir eine kinoreife Übersicht über die eigene Familie, Gefühle der Ablehnung, der fehlenden Verantwortung, ungleiche Behandlung und des Wegschiebens von Problemen und auch Personen.
Kleiner Teufel, heute willst du es aber richtig wissen und bist im Topform (kein Wunder, ich schleppe dich ja auch die ganze Zeit mit mir herum und du kannst fröhlich frech in deiner Hängematte vor dich hin summen). Auf dem Jakobsweg erscheinen nicht nur eine Menge Erinnerungen und Gedanken, sondern es kommen auch eine Unmenge an unterschiedlichen, teils schmerzvollen Gefühlen zum Vorschein. Man kann sich nicht davor verschließen, nicht darauf vorbereiten, nicht davor weglaufen.
Und während ich in einer großen Diskussion mit diesem kleinen Blockbusterteufel stehe, laufen wir an einer Vielzahl von kleinen, beschriebenen Steinen auf der linken Seite des Feldweges vorbei. Mein erster Blick fällt auf einen etwas größeren, roten Stein mit weißer Schrift. Ich lese den Text und lasse ihn mir später von Ivan übersetzen.
«El dolor es inevitable. Es sufrimiento es opcional.»
Jakobsweg
Schmerz ist unvermeidbar. Leid ist optional.
Es dauert eine Weile, bis mir die volle Aussagekraft dieses Spruchs bewusst wird. Denn Schmerz wird immer präsent sein. Ob wir wollen oder nicht. Sei es physischer Schmerz oder auch psychischer Schmerz. Es wird immer Momente geben, welche nur schwer auszuhalten sind. Und wir keine Entscheidungsfreiheit haben, ob wir dem Schmerz ausgesetzt sein wollen oder nicht. Doch unsere Entscheidungsfreiheit liegt darin, wie wir mit diesem Schmerz, egal wie groß oder klein er ist, umgehen. Wie sehr und wie lang wir uns dem Leid hingeben wollen. Denn manchmal lernen wir die wichtigsten Lektionen, wenn wir großem Schmerz und Leid ausgesetzt sind. Wenn wir aus dem Leid heraus eine Entscheidung treffen, um eine Veränderung anzustreben. Wenn wir uns dem Leid entgegenstellen, aufstehen und weitermachen. Und den kleinen Teufel aus seiner Hängematte schmeißen.
Najera und der spanische Felix
Der kurze Tag auf dem Jakobsweg ist trotz der wenigen Kilometer anstrengend, ermüdend und kräftezehrend. Allerdings werden wir immer wieder mit einer wunderbaren Landschaft und kleinen Highlights auf dem Weg belohnt. Nachdem wir die erstaunlich schöne Stadt Najera erreicht haben, folgen wir ihr erst entlang enger Gassen, dann über einen kleinen Platz vor der hiesigen Kirche, um dann leicht bergauf unser Hostel gegen 14.30 Uhr zu erreichen. Der Herbergsvater heißt ebenfalls Felix und berichtet uns, dass er den nationalen Champion des Frontón bzw. Pelota (eine Art Squash, teilweise gespielt ohne Schläger) persönlich kennt und dieser hier im Ort wohnt. Während er von den Erfolgen seines Freundes berichtet, erspähe ich hinter dem Empfangstresen einige Jakobsweg Accesoires und erinnere mich daran, dass Ivan übermorgen seinen Geburtstag feiert. Ich werde ihm also übermorgen eines dieser kleinen Aufmerksamkeiten zum Geburtstag überreichen. Kaum im Zimmer angekommen, ist Aurelio bereits wieder on fire und möchte mit uns, wie kann es anders sein, essen gehen. Etwas genervt und übermüdet stimme ich zu und wir folgen Aurelio stechenden Schrittes in eine kleine Bar, obwohl draußen die Sonne scheint. Nachdem ich widerwillig eine halbe Stunde in der dunklen Bude gehockt habe, entscheide ich mich dazu, mich zurückzuziehen, etwas zu schlafen und später ein wenig Zeit für mich zu nutzen. Nachdem ich einen kurzen Powernap gemacht habe, schleiche ich mich 16.30 Uhr aus dem Hostel, denn Aurelio und Ivan schnarchen nun auch friedlich vor sich hin.
Da die Sonne von dem kleinen Platz vor der Kirche bereits verschwunden ist, setze ich mich in die erste Bar, die ich finden kann und unterhalte mich ein wenig mit dem Barkeeper, der mich erfolgreich davon abhält, Reisetagebuch zu führen. Er spricht ein wenig deutsch und erzählt mir von seinem Rammstein Konzert in Barcelona und dass er vor einigen Jahren in Ingolstadt war. Während der große junge Mann begeistert von seinen Erlebnissen berichtet, lässt er Rammstein, Red Hot Chilli Peppers und Sultans of Swing laufen und dreht die Musik in der Bar auf volle Lautstärke. Ich genieße seine Erzählungen und den Rotwein, während Ivan gegen 17.30 Uhr dazustößt und wir auf einen kurzen aber schönen Tag anstoßen können.
Gemeinsam mit Aurelio machen wir uns 20 Uhr auf zum Abendessen, Pizza, Rotwein und Wasser. Wir diskutieren über den nächsten Tag und die Unterkunft. Aurelio telefoniert wie wild herum und diskutiert mit einem Host, der das Geld für die Unterkunft innerhalb von zwei Stunden überwiesen haben möchte. Nachdem ich das mir bekannte Wort ano aus Aurelios Mund nuscheln höre wird mir klar, dass dieser Host definitiv nicht unser Host sein wird 🙂
Zurück im Hostel treffen wir auf Ricky, den wir in Torres del Rio kennengelernt haben und plaudern kurz und zwanglos über den Tag. Es stimmt, was der Brite über Pilger auf dem Weg berichtet hat, manche Pilger trifft man öfter auf dem Weg (und auch den Briten werden wir bald wiedersehen). Erstaunt stelle ich fest, dass sich das Reisetagebuch mittlerweile gut gefüllt hat und lege es nach meinem letzten Eintrag des Tages müde und zufrieden beiseite. Zeit für etwas Schlaf und Erholung.
Zusammenfassung Tag 7
Navarette – Ventosa – Najera
Entfernung: 17,1 km
Gesamtstrecke: 190,1 km
Höhenmeter aufwärts: 269 m ; Höhenmeter abwärts: 284 m
minimale Höhe: 486 m ; maximale Höhe: 666 m
Dauer: 4 h 30 min
Fazit des Tages:
„El dolor es inevitable. El sufrimiento es opcional.“
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