Last updated on April 5, 2023
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Tranquillo es despacito
Pilgerleben mitten in Spanien. Statt mich auszuruhen, auszuschlafen und meinem Körper ein wenig Ruhe zu gönnen, lasse ich meinen Wecker 7 Uhr nicht allzu lang klingeln und schiebe mich Stück für Stück aus dem Bett. Müde. Erschöpft. Und dennoch innerlich voller Energie und Tatendrang, das soll mir mal jemand erklären. Vielleicht liegt es an der ständigen Bewegung. Der täglichen Aufgabe. Dem Ziel, das vor mir liegt. Ich bin ständig in Gedanken, zeitweise vollkommen fokussiert und im Moment. Und immer in Bewegung. Vielleicht ist das das Geheimnis des Weges. Man ist auf Reisen. Mit sich selbst. Man grübelt viel, ist aber auch körperlich in Bewegung. Und man kommt voran. Nur Grübeln wäre wie Schaukeln, man ist zwar in Bewegung, aber so wirklich vorwärs kommt man nicht…
Aurelio und Ivan lassen den Tag wie immer spanisch gemütlich starten und lassen sich beim Packen von nichts aus der Ruhe bringen, vielleicht sollte ich mir auch ein wenig spanische Leichtigkeit abschauen und weniger deutsch alles ruckzuck erledigen. Einfach mal alles etwas sanfter angehen lassen, wir sind ja hier nicht in Eile oder müssen das Ding möglichst schnell durchziehen, das würde das Zeil des Weges absolut verfehlen. Deshalb heute auch eine kurze und entspannte Tour, um den Körper etwas Ruhe zu gönnen. Auf gehts, Buen Camino Felix!
Geben und Nehmen
Wir starten den Tag gemütlich gegen 8 Uhr, hinaus aus Hospital de Orbigo, Astorga entgegen. Aurelio stets vor uns. Wie ein kleiner alter Teufel, immer mit einem kleinen Grinsen im Gesicht. Ivan hinterlässt dem Obdachlosen, den wir letzte Nacht unter dre Brücke angetroffen haben, ein paar Kleinigkeiten zu Essen. Der Junge hat das Herz am rechten Fleck. Die Sonne strahlt und wärmt unseren Rücken, vor uns endlich Bäume, ein wenig mehr bergauf. Und endlich, endlich wieder Feldweg 🙂
Ivans Handy gibt entgültig den Geist auf (er hat es vor einigen Tagen fallen lassen). Egal wie sehr er noch darauf rumtippt und flucht, das Ding ist einfach mal hin Junge. Wir passieren einen Hof mit Kälbern und Kühen, kurz darauf machen wir eine Pause an einem schönen Plätzchen inklusive Bank und Andenken von Pilgern. Wir philosophieren über das Teilen von gemeinsamen Erlebnissen. Von gemeinsamen Abenteuern. Tauschen Bilder aus. Und stellen fest, dass es bei einer Reise manchmal nicht um das Ziel oder den Weg an sich geht. Sondern manchmal einzig und allein um die Gesellschaft, die man um sich herum hat. Und wie wichtig gute Gesellschaft während einer Reise ist.
Wir begegnen einigen Holzfällern auf dem Weg, die sich allerdings mürrisch zeigen und nicht grüßen. Bevor wir also Axtmördern zum Opfer fallen, laufen wir zügig weiter. Ich genieße die Landschaft und den Weg. Ein Segen für Auge und Körper, statt Straßen und langweiligen Feldwegen endlich etwas mehr Natur und Landschaft!
Wir entscheiden uns, in San Justo de la Vega eine Pause einzulegen, Den Sonnenschein zu genießen, während Aurelio telefoniert. Auch hier würde ich bereits gern meine Zelte aufschlagen, aber bis Astorga sind es nur noch 4km, also immer langhin!
Kurz darauf erreichen wir bereits die tolle Stadt Astorga. Und Aurelio entscheidet sich kurzerhand, weiterzupilgern, während wir für heute unser Tagesziel erreicht haben.
Nun ist es also soweit, unsere Wege trennen sich. Mein spanischer Pilgeropa setzt seinen Weg fort. Der Kerl wird mir wirklich fehlen. Das Klacken seiner Wanderstöcke hinter mir. Sein unaufhörliches Geplappere direkt am Morgen. Sein teuflisches Grinsen, wenn er an mir vorbeizieht. Und seine Art und Weise. Tranquillo. Despacito. Ich hoffe, du kommst gut an und bleibst verrückt Aurelio – ¡Adiós, amigo mío!
Brasilianische Herzlichkeit und Familiengeschichten
Und schon ist Aurelio aus meiner Sicht verschwunden. Ein sehr merkwürdiges Gefühl, ihn gehen zu lassen. So viele Tage sind wir gemeinsam gereist. Haben gemeinsam neue Orte entdeckt. Gemeinsam einen Teil des Weges bestritten. Gelacht. Und jetzt gehen wir getrennte Wege. So sehr dieser Abschied auch schmerzt, er wird sich nie vermeiden lassen. Menschen treten in unser Leben und bereichern es. Manchmal haben wir das Glück, dass diese Menschen bleiben. Und manchmal verlassen sie uns wieder. Und haben uns ein Stück unseres Weges begleitet. Den Weg angenehmer, schöner und besser gemacht. Wie heißt es so schön, es geht bei einer Reise nicht um das Ziel oder den Weg, sondern einzig und allein um die Gesellschaft. Und manchmal ist man sich auch selbst die Gesellschaft…
Ivan und ich suchen unsere Unterkunft, die wir über unsere Pilgerapp entdeckt haben. Bei Patricia aus Brasilien, eine wirklich herzliche und freundliche Frau. Aus Brasilien. Auch sie ist viel gepilgert und hat einige Pilgerurkunden bei sich an der Wand hängen. Wir schlafen im oberen Geschoss, eine eigene Etage mit Badezimmer und ein paar wirklich bequemen Betten. Mit Abstand eine der besten Unterkünfte auf dem gesamten Jakobsweg. Ein paar Gespräche über unsere Erlebnisse, danach eine heiße Dusche, Pizza und Bier. Hier kommen Ivan und ich wieder ins Gespräch. Heutiges Thema – Familiengeschichten, Erfahrungen, sowohl die guten als auch die schlechten. Ablehnung. Ignoranz. Fehlende Strukturen. Fehlende Liebe. Und was wir daraus lernen und besser machen wollen. Für uns. Für unser Umfeld. Für unsere Kinder (sollten wir irgendwann eigene Kinder haben…). Und wir stellen fest, dass wir allein durch unsere Ansicht, aus den negativen Erlebnissen und Situationen zu lernen und zu wachsen, schon einen großen Schritt gegangen sind. Und uns in einem Prozess des Wachsens befinden.
Nach einem kurzen Schläfchen drehen wir noch eine Runde durch die Stadt, entlang der kleinen Kathedrale in Astorga. Und schlendern ein wenig durch den Park. Ich komme allerdings heute nicht mehr aus meinem Modus „scheiß müde und platt“ raus und beschließe, den Tag entspannt im Bett ausklingen zu lassen. Ein durchaus nötiger kurzer und dennoch wirklich schöner Tag. Mit guter Landschaft, guten Gesprächen und einem doch sehr emotionalen Abschied.
Zusammenfassung Tag 17
Hospital de Orbigo – Astorga
Entfernung: 17,8 km
Gesamtstrecke: 510,2 km
Höhenmeter aufwärts: 269 m ; Höhenmeter abwärts: 215 m
minimale Höhe: 820 m ; maximale Höhe: 921 m
Dauer: 4h 25min h
Fazit des Tages
„Mancher Schmerz wird nie ganz vergehen. Wichtige Menschen werden uns immer begleiten, im Guten und im Schlechten. Aber nur wir selbst entscheiden, wie wir mit dem Schmerz umgehen.“
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