Last updated on April 5, 2023
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Gras zum Frühstück
Der übliche Wahnsinn des Pilgers am frühen Morgen. Aufstehen, den Körper abchecken und sich fragen, wie weit man es heute schafft. Was alles passieren wird. Welche Orte man entdecken wird. Ob das Wetter durchhält. Und ob man gemeinsam mit seinen Mitpilgern ankommt, oder allein weiterreisen wird. Und dann sitzt du in der Küche des Hostels (und ganz ehrlich, dieses Hostel ist wirklich ein Traum, mitten in Leon und als Pilger mehr als erschwinglich) und zwei betrunkene Kerle kommen reingestürzt und quatschen dich voll. Stecken sich ne Zigarette in den Mund und fangen an in der Küche zu paffen. Und als ob das nicht schon genug ist, rauchen sie statt normalem Tabak auch noch Gras. Geil! So stelle ich mir mein Frühstück nach 15 Tagen Pilgern vor. So hab ich doch gleich richtig Bock aufs Wandern, auf frische Luft und auf möglichst wenig Menschen. Und während mich der Typ weiterhin auf Spanisch vollquatscht und Ivan mir gegenübersitzend nur noch grinst, versuche ich mein Frühstück entspannt zu genießen und keine Mordgedanken aufkommen zu lassen. Vielleicht bleibe ich deshalb so entspannt, weil allein der Grasgeruch mich in einen Zustand des high-seins versetzt – wer weiß das schon 🙂
Also auf gehts, neuer Tag, neuer Weg, neues Ich? Zumindest eins ist nicht neu – die Schmerzen in linken Knie im Bereich meiner Narbe – wird schon halten – lets go!
Ein Vollsuff kommt selten allein…
Wir machen uns auf in die kalte Stadt. Leon wirkt wie ausgestorben, wahrscheinlich liegen die meisten Menschen noch im Bett, mehr oder weniger nüchtern. Es friert und ich packe mich möglichst warm ein und verberge mein Gesicht vor der kalten Luft. Und folge den gewohnten Zeichen des Jakobsweges. Mittlerweile habe ich ein Gespür und ein Auge dafür bekommen, wo ich nach den Zeichen suchen muss, erst Recht in der Stadt. Laternen. Wegmarkierungen auf der Straße. Häuserwände. Also suche ich immer und immer wieder nach den Zeichen und folge ihnen brav und sorgsam. An der Kathedrale in Leon halten wir kurz inne und schießen ein paar Fotos. Und als wäre mein Grashüpfer vom Frühstück nicht schon genug gewesen, quatscht uns der nächste Betrunkene von der Seite an. Ich lächle freundlich und gebe ihm zu verstehen, dass ich ihn nicht verstehe. Wahrscheinlich bin ich immer noch high und tiefenentspannt vom Frühstück? Vielleicht – nichtsdestotrotz entscheide ich mich recht schnell, heute einen Solotag einzulegen. Ohne Aurelio und Ivan. Mein Bauch sagt mir, dass das heute nötig ist und ich mit mir alleine laufen möchte. Also vorbei an der Kathedrale und dem Weg folgend aus der Stadt hinaus, leicht bergauf, immer den Wegzeichen folgend. Die Sonne geht langsam auf, mein Körper wärmt auf und während ich dem Weg aufwärts die Stadt hinaus folge, höre ich Sirenen in der Ferne. Vielleicht sind sie ja auf der Suche nach dem Grashüpfer und machen ihn dingfest?
Ich bin nach wie vor saumüde und schlafe fast im Gehen ein. Schritt um Schritt kämpfe ich mich heute den Weg entlang.
Ab und an entdecke ich motivierende Worte oder Sticker an Laternen – und ganz ehrlich – das ist eine riesengroße Motivation und lässt positive Emotionen in mir aufkommen. Danke an all die Unbekannten da draußen für eure Unterstützung. Sticker retten nicht die Welt, aber sie retten meinen Tag!
Schwere Beine auf der Überholspur
Ich folge später der offiziellen Route bei einer Weggabelung, Aurelio und Ivan folgen einem kleinen Umweg wie ich später erfahre. Ab und an bellen mir Hunde zu, ein Storchennest haust auf einem Kirchturm. Im Nest klappern ein paar Storche vor sich hin und mustern mich. Feldweg folgt. Autobahn. Meine Motivation sinkt deutlich, die Landschaft macht es heute nicht besser. Ich werfe einen Podcast ein, grüße ein paar Pilger und folge der Straße. Nachdem mich mehrfach Autos beim Vorbeifahren über den Haufen gefahren hätten, entscheide ich mich für den Feldweg neben der Straße, wenngleich meine Beine ein wenig Asphalt gut gebrauchen könnten…
Das Knie meldet sich auch wieder, heute ist aber auch ein absolut gebrauchter Tag. Egal, weitermachen. Weiterlaufen. Nutzt ja nix. Die Rettung naht. 13.30 Uhr. Ein kleines Cafe in St. Martin del Camino. Cafe von leche und Eier. Allerdings kein Stempel. Und ein paar argwöhnische Figuren im Cafe, die der Bedienung beim Wischen des Bodens sehr genau zusehen. Ich betrachte die gesamte Szene eher unbeeindruckt. Müde. Erledigt. Ich will sitzen bleiben und einfach einschlafen. Dem Knieschmerz entkommen. Nicht mehr pilgern. Einfach sitzen, atmen und sein.
Anyway, auf gehts Dicker, beweg den Hintern hoch und weiter auf deiner Reise. Ich treffe bald auf eine Schafherde, die von zwei Hunden den Feldweg entlang getrieben wird. Sie mustern mich und rennen schnell an mir vorbei. Später folgt ein Zuckerrübenfeld und ein toter Fuchs am Wegesrand. Zugegeben, ich hab mich immer und immer wieder umgeschaut, kann ja sein dass der kleine Fux sich nur totstellt, um mich dann hinterhältig aufzufressen :). Aber er schien wirklich keinen Muchs mehr von sich gegeben zu haben…
Auf meinen letzten Kilometern motiviert mich ein hupender Autofahrer, der mir zuwinkt und mich grüßt (zumindest glaube ich das 🙂 )
Kriminelle Angelegenheiten
Bald erreiche ich, müde und dennoch glücklich, Hospital de Orbigo. Bekannt für seine wunderschöne Brücke, die im Sommer mit wehenden Fahnen jeden einzelnen Pilger begrüßt. Ankunft am örtlichen Restaurant. Bier und Patata! Halleluja Freunde. Was für ein Segen. Was für ein Genuss. Was für eine Freude. Endlich angekommen!
An der Unterkunft zahle ich 24€, Handtücher kosten extra. Rebell wie ich bin, nehme ich mir einfach ein Handtuch aus dem Schrank im Flur des Pilgerhostels und genieße meine verdiente, heiße und lange Dusche. Aurelio und Ivan tauchen 90 Minuten nach meiner Ankunft auf. Ivan ist vollkommen erledigt und hat die letzten Kilometer des Tages viel geweint. Junge, der Weg haut hier aber auch manchmal volles Brett die Emotionen durcheinander (und auch ich werde das noch das ein oder andere Mal volle Kanone abbekommen). Wir vereinbaren für den nächsten Tag eine kurze Tour, um uns ein wenig zu erholen. Und auf dem Weg zum Abendessen zwackt mir die Chefin des Hostels 2€ für das Handtuch ab. Rebell hin oder her, nächstes Mal nehm ich einfach mein eigenes, Kriminell kann ich einfach nicht 🙂
Beim Abendessen sitzen wir neben zwei deutschen Frauen, mit denen wir allerdings an diesem Abend nicht ins Gespräch kommen werden. Ivan zischt ein Glas Wasser nach dem nächsten Weg. in 30 Minuten haut der sich einfach mal 7 Gläser Wasser in den Wanst – der Junge hat offensichtlich Brand.
Nach dem Essen gehen Ivan und ich noch eine Runde spazieren, entlang der Brücke und treffen auf einen Obdachlosen. Und mir wird wieder einmal bewusst, wie gut es mir, wie gut es uns eigentlich geht. Scheiße, viel zu gut. Und ich glaube, das sollte mir viel öfter bewusst sein, ohne dass es einen obdachlosen Menschen braucht. Leute, das Leben ist gut. Das Leben ist schön. Genießen wir es so gut, so lang und so ausgiebig es nur geht. Gute Nacht!
Zusammenfassung Tag 16
León – Saint Martin del Camino – Hospital de Orbigo
Entfernung: 32.1 km
Gesamtstrecke: 492,7 km
Höhenmeter aufwärts: 240 m ; Höhenmeter abwärts: 265 m
minimale Höhe: 817 m ; maximale Höhe: 918 m
Dauer: 7 h
Fazit des Tages
„Geduld und Ausdauer zahlen sich aus.“
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