Last updated on April 5, 2023
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Schicksalhafte Entscheidungen
Heute Nacht habe ich definitv richtig beschissen geschlafen. Mich hin- und hergewälzt, habe keine Ruhe gefunden. Keinen erholsamen Schlaf gefunden. Das Etagenbett wackelt unaufhörlich hin und her. Und dank der Gesetze der Physik wackelt es oben, wenn es unten wackelt. Und Aurelio, der unter mir liegt, bewegt sich in der Nacht erstaunlich oft hin und her. Der Kopf läuft dazu auf Hochtouren. Der Körper ist müde und erledigt. Mensch, kommt endlich miteinander klar, stellt euch aufeinander ein und findet endlich einen gemeinsamen Rythmus – wir sind immerhin noch ein paar Tage gemeinsam unterwegs und haben noch den ein oder anderen anstrengenden Kilometer vor uns. Wie heißt es in einem Buch so schön treffend? Halt‘ einfach mal die Fresse Clown!
Wir frühstücken in einer hiesigen Bar, keine 300m von unserer Herberge entfernt bei einer älteren Dame. Café und getoastetes Brot. Aurelio und Ivan sprechen hauptsächlich auf spanisch mit der älteren Dame, sodass ich mein Frühstück in Ruhe genießen kann und im Tag ankomme. Es ist alles sehr herzlich, warm und gemütlich eingerichtet. Die Dame lächelt viel, im Haus schnurrt eine Katze auf der Treppe und sucht von Zeit zu Zeit unsere Nähe für ein paar Streicheleinheiten.
Später erfahre ich von Ivan, dass die Dame vor einiger Zeit an Krebs erkrankt ist und entschieden hat, auf dem Jakobsweg eine Albergue zu eröffnen, um den Pilgern möglichst gut zu helfen, sie zu unterstützen und sie auf ihrem Weg ein Stück zu begleiten. Ich finde diese Entscheidung der Dame sowohl sehr beeindruckend, als auch sehr traurig. Denn erst ihr Schicksal der Diagnose hat sie dazu veranlasst, ihr Leben zu verändern und in eine neue Richtung zu lenken. Die Gedanken an die Dame lassen mich nicht mehr los und veranlassen mich dazu, mich heute ausschließlich mit mir und dem Weg zu befassen, sodass ich mich heute von Aurelio und Ivan absetze und mich allein auf den Weg mache – 45km liegen nun zwischen mir und dem Tagesziel León. Buen Camino!
Verstrickte Angelegenheiten
Nachdem ich Bercianos del real Camino hinter mir gelassen habe, laufe ich an einem kleinen Bauernhof vorbei, hinter mir ein grandioser Sonnenaufgang, der den Weg vor mir erleuchtet. Endlose Straße vor mir, blauer Himmel über mir, vorbei an einem einsamen Trecker. Die Straße flach, es läuft sich leicht und unbeschwert, in Gedanken immer noch bei der Dame mit der Krebsdiagnose und ihrer wunderbaren Entscheidung, ihrem Leben eine neue Wendung zu geben.
Ich laufe friedlich, einsam und zufrieden den langen flachen Weg entlang. Hier und da mit ein wenig Musik, ein paar Sprachnachrichten für Freunde und vorbei an einer Wand mit motivierenden und teils witzigen Sprüchen. Und dem Hinweis: Santiago: 350km! Wahnsinn, vierzehn Tage bin ich nun bereits unterwegs und habe schon mehr als 400km zurückgelegt – ich spüre Stolz, Zufriedenheit und eine Menge Motivation.
Bald erreiche ich auf meinem Weg die kleine Ortschaft El Burgo Ranero, keine tausend Menschen wohnen hier. Und das macht sich im Winter auch bemerkbar. Nichts ist geöffnet, ich mache mich auch nicht groß auf die Suche und wandere dem Weg folgend aus dem Dorf hinaus. Auf der Straße eine Kreidezeichnung eines bekannten Kinderhüpfspieles mit der Frage „We play?“. Klaro, also hüpfe ich fröhlich mit einem Bein, beiden Beinen die Zahlen ab und freue mich über die kleine Abwechslung auf dem Weg und den Spaß.
Hinaus aus der kleinen Ortschaft, erneut entlang eines langgezogenen Weges ohne Autos, freilaufende Hunde oder andere Bekanntschaften. Die Bäume auf der linken Seite des Weges sind hier geschmückt mit bunten Stickereien, ob zum Schutz oder zur Deko – ich weiß es bis heute nicht. An einigen dieser Stickereien sind Fotos angepinnt, mit Botschaften für geliebte Personen, teilweise versehen mit einem „R.I.P.“. Der Tod begegnet mir durch solche Botschaften fast täglich auf dem Weg und lässt mich jedes Mal einen kurzen Moment innehalten.
Kilometerlang zieht sich die Straße vor mir, ohne langweilig zu werden. Bald treffe ich auf meine Lieblingstiere – Kühe. Ich versichere ihnen, sie nicht zu essen und lediglich an ihnen vorbeilaufen zu wollen. Also lassen sie mich passieren und von einem Baum zwitschert ein merkwürdiger Vogel. Die Geräusche, die er macht, habe ich vorher noch nie gehört. Eine Art hochfrequentes „Wheep Wheep“ lässt er immer wieder ertönen. Er gehört wohl, wie ich, zur Gattung der komischen Vögel, wer weiß.
Mit offenen Augen und offenem Herzen
Kilometer um Kilometer folge ich der langgezogenen Straße, erreiche Reliegos, ein weiteres kleines Dorf direkt am Jakobsweg. Kurze Pause, eine Katze in der Sonne liegend beobachten und weiter geht’s. Straße. Feldweg. Autobahn. Vor mir erkenne ich bald eine kleinere Gruppe wandern, offensichtlich ebenfalls Pilger. Als ich an ihnen vorbeikomme erkenne ich, dass einer der Pilger offenbar sein Augenlicht verloren hat. Und dennoch mit Begleitung den Weg meistert – was für eine Leistung, was für eine Motivation, was für eine Freude. Ich wünsche allen von Herzen einen Buen Camino und entdecke schon bald eine weitere Botschaft an einem Wegweiser: „You are amazing“. Diese kleinen Momente, Sprüche und Begegnungen geben mir immer wieder aufs Neue Kraft, Energie und einen Antrieb.
Gegen 13 Uhr erreiche ich Mansilla de las Mulas, unser eigentliches Tagesziel, was wir ursprünglich angepeilt haben. Zeit für eine ausgiebige Mittagspause in einem kleinen Hof bei Spiegelei, Brot und einer großen Flasche Wasser. Die Mittagssonne spendet Motivation, ein wahrer Energiebooster. Die freundliche Bedienung an der Bar wünscht mir einen Buen Camino für meinen weiteren Weg und so entscheide ich mich, weiterzupilgern. Mit neuer Energie und voller Vorfreude.
Vorbei an einem Hund und einer Ziege, der Schnellstraße und Feldwegen entlang, Richtung Puente Villarente. Hier hat sich offenbar das halbe Dorf in der Bar „Viel Glück“ versammelt. Erneut eine Botschaft auf dem Weg, heute summieren sich diese Aussagen aber schon zusammen. Offensichlich soll mir heute der gesamte Weg Motivation, Freude und Energie spenden. Und die werde ich am Tagesende auch noch brauchen.
Eroski – nicht dass, was du denkst
Gegen 15 Uhr lege ich die letzte Pause des Tages ein, mein Körper meldet sich und ich spüre die bereits hinter mir liegenden 35km des Tages. Bis León sind es noch 10km. Die schaffe ich auch noch dank der vielen motivierenden Worte auf meinem heutigen Weg.
Auf dem Weg hinaus aus Puente Villarente entdecke ich aus einiger Entfernung einen Shop. Eroski steht darauf geschrieben und im ersten Moment erwarte ich, einen Erotikshop vorzufinden (und mal ehrlich – du hast sicher auch einen kurzen Moment in diese Richtung gedacht) – allerdings handelt es sich hierbei „nur“ um eine Supermarktkette in Spanien.
Die Sonne brennt nun unbarmherzig auf mich hinab, die Füße schmerzen, der Weg wird Schritt um Schritt härter. Musik an, Schrittempo erhöhen, durchhalten und weitergehen. Bergauf, immer weiter. Und bald mit einem Blick auf die Provinzhauptstadt León. Die Kathedrale ragt weit hervor und ich folge den letzten Kilometern stadteinwärts, vorbei an Bars, Wohnhäusern und auf einen kleinen, belebten Platz zu meiner heutigen Unterkunft. Für 16 € kann ich heute schlafen, Frühstück inklusive! Und diese Herberge ist ein wahrer Segen, hübsch, ordentlich, warm, gemütlich. Und bei der ganzen Anstrengung habe ich ganz vergessen, ausreichend zu essen. Also schnabuliere ich bereits jetzt in dem Frühstücksraum zwei große Schüsseln Cornflakes und nutze danach die Zeit, um ausgiebig zu duschen, meine Sachen neu zu sortieren, ein Bier auf der Plaza zu trinken und dem geschäftigen Treiben zuzuschauen. In León ist es übrigens Brauch, dass man zu jeder Getränkebestellung kleine Snacks kostenfrei dazubekommt, egal ob man ein Wasser oder eine Flasche Wein bestellt. So kann man sich auch günstig durch Spanien futtern. Überall stehen auf den Tischen kleine Schalen, Schüsseln und Teller mit diversen Köstlichkeiten, auf Kosten des Hauses.
Gegen 18.30 Uhr kommen auch Ivan und Aurelio von ihrer Tagestour im Hostel an und sind sichtlich erfreut, endlich die Tour hinter sich gebracht zu haben. Ich bin immer wieder beeindruckt von Aurelio. 71 Jahre jung und hat soeben einfach mal 45km gerockt – definitiv einer meiner Helden auf dem Jakobsweg. Fit. Freundlich. Ferrückt.
Ich lege mich bis 20 Uhr ins Bett und ruhe mich ein bisschen aus, während Ivan und Aurelio die Zeit nutzen, um sich frisch zu machen und ihre Betten zu beziehen. Danach begutachten Ivan und ich die letzten Etappen des Jakobsweges und stellen fest, dass wir noch einige Höhenmeter vor uns haben, vor allem die Etappe nach Foncebadon wird uns noch beschäfitgen und uns einiges abverlangen.
Gemeinsam treibt es uns zum Abendessen in eine Pizzeria, wo wir bei gutem Essen und einem kühlen Getränk sichtlich geschafft und glücklich den Tag ausklingen lassen.
Ich kann dem Clown heute nur raten, mir beim Einschlafen und in der Nacht nicht auf die Nerven zu gehen – es wird Zeit für ein wenig Erholung und ausreichend Schlaf. Gute Nacht!
Zusammenfassung Tag 15
Bercianos del real Camino – Reliegos – León
Entfernung: 45 km
Gesamtstrecke: 460,6 km
Höhenmeter aufwärts: 300 m ; Höhenmeter abwärts: 308 m
minimale Höhe: 791 m ; maximale Höhe: 902 m
Dauer: 8h 40 min
Fazit des Tages
„Bei guten Voraussetzungen und der richtigen Einstellung kann aus einem langen, geraden und schlichten Weg ein echtes Erlebnis werden“
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