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Tag 14 | Leben am Limit

Last updated on August 8, 2022

Geschätzte Lesedauer: 7 Minuten

Und plötzlich läufst du auf Etwas zu!

Es gibt Momente, in denen du feststellst, dass du dich auf einem unglaublichen Weg befindest. Dass du vorwärts kommst. Etwas erreichst. Dass sich all die Mühe, die Anstrengung, die Sorge, die Kraft, die Energie und der Schmerz lohnen. Dass du körperliche und mentale Fortschritte gemacht hast, machst und machen wirst. Dass Ausdauer belohnt wird. Dass Erfolg Schritt für Schritt entsteht. Dass es manchmal viel Geduld und ein wenig Mitgefühl für sich selbst braucht. Und dass all dies die Summe aus vielen kleinen Momenten, Schritten und Entscheidungen ist.
In dem Moment, als ich in Ledigos gegen 7.30 Uhr aufwache und feststelle, dass ich seit einer gefühlten Ewigkeit zum ersten Mal wieder richtig geschlafen habe – in genau diesem Moment habe ich all diese Dinge gedacht, gespürt und erlebt. Seit meiner Ankunft in Bayonne habe ich nicht mehr so gut schlafen können, mich nicht mehr so erholt gefühlt. Hier in Ledigos stelle ich fest, dass ich mich mitten auf dem Jakobsweg befinde, dass die Hälfte des Weges bereits hinter mir liegt und ich mich von nun an nicht mehr von Saint Jean Pied de Port wegbewege, sondern auf Santiago de Compostela zulaufe. Dass der Weg von nun an immer und immer kürzer wird und Santiago immer näher kommt (das war natürlich von Anfang an so – aber ihr wisst doch, wie ich das meine Mensch 🙂 ).

Die nächsten geplanten Tagesetappen werden etwas entspannter und kürzer als die letzten Tage, denn mein Körper braucht etwas Erholung und Ruhe, um auch auf der zweiten Hälfte des Camino Frances weiterhin ein zuverlässiger Partner sein zu können. Nachdem wir uns in unserer schönen Unterkunft ein fantastisches kleines Frühstück gegönnt haben, starten wir gegen 8.30 Uhr in den Tag und machen uns erneut auf den Weg.

Köstliches kleines Frühstück im „La Morena“ in Ledigos

Good old Seitenstreifen

Die ersten Meter verirren wir uns ein wenig auf dem Weg, einfach nur weil wir in die falsche Richtung laufen und den Wegzeichen falsch gefolgt sind. Schnell bemerken wir unseren Fehler und machen uns auf, dieses Mal Richung Santiago 🙂 .
Heute laufe ich bewusst langsamer als die letzten Tage, spüre mein rechtes Knie und damit zum ersten Mal eine körperliche Ermüdungserscheinung, die mich sehr lang begleiten wird und mir immer wieder Sorgen bereiten wird. Statt dem altbekannten Feldweg versuche ich, so gut es geht, Asphalt zu laufen, um den kleinen fiesen Feldwegsteinen aus dem Weg zu gehen. Da wir heute oftmals entlang wenig befahrener Straßen unterwegs sind, entscheide ich mich für den Seitenstreifen, immer auf der linken Seite, um schnell ausweichen zu können. Heute läuft sich der Weg trotz weniger Höhenmeter schleppend, träge und ermüdend. Und immer geradeaus. Gedanken und Kopf finden keine Ruhe, keine Struktur, keinen eigenen Weg. Also laufe ich gemeinsam mit ihnen einfach weiter voran, der Straße entlang.

Mehrfach finden wir auf unserem Weg kleine brennende Feuer, oftmals am Anfang oder Ende eines Dorfes. Offensichtlich scheint sich niemand daran zu stören, offenbar handelt es sich auch um absichtlich gelegte Feuer. Ivan allerdings stört sich sehr daran, löscht eines dieser kleinen Feuer im Ort Moratinos und verschwindet kurzzeitig im Qualm des überraschend kleinen Lagerfeuers. Kurz danach hält auf einer langgezogenen Straße ein Auto hinter mir, ich bereite mich erschrocken und aus meinen Gedanken gerissen auf alles Mögliche vor. Einen Überfall. Fliegende Mülltüten. Lautes Geschrei (warum auch immer, der Fahrer hat einfach und urplötzlich stark abgebremst und steigt voller Energie aus der Karre aus Mensch). Aber nichts davon passiert. Der Fahrer checkt den Motorraum und fährt seelenruhig weiter. Und lässt mich da einfach stehen, ohne mit der Wimper zu zucken. Wenigstens passiert hier mal was auf der ansonsten so eintönigen Straße.

The shit is real!

Heute entscheide ich mich dazu, ein paar Sprachnachrichten zu verteilen und spontane Eindrücke von meinem Weg zu teilen. Während ich also so fröhlich vor mich hin pilgere, immer der Straße entlang und fröhlich sinnfreie Texte in das Telefon spreche, blicke ich nach links. In die Einfahrt eines schönen und großen Hauses. Mit einem Hund in der Einfahrt. Der sich in eine eindeutige Pose hockt. Und einen riesengroßen Haufen mitten in die Einfahrt ablegt. Und mir damit den Tag bereichert, weil ich diesen Moment natürlich auch mit meinem Gegenüber teile und laut lachen muss. Hundi made my day. The shit is real!

Auf unserem Weg Richtung Sahagún erreichen wir die Region Castilla y León. Ein weiterer Meilenstein auf unserem Weg und das Ende der Region La Rioja mit ihren ´wunderbaren Weinfeldern. Hier müssen wir eine Autobahnauffahrt überqueren, um dem Weg zu folgen (es hätte sicher auch andere Wege gegeben 🙂 , Leben am Limit auf dem Weg der Spiritualität) und folgen nun der Straße abwärts mit Blick auf die Stadt Sahagún.
Während wir in die Stadt einlaufen, vorbei an einem kleinen Bierbetrieb, industriellen Gebäuden und geschäftigem Treiben, frage ich Aurelio, ob er die Barfrau aus Ledigos „muy caliente“ fand – einfach weil er ihr immer hinterherschauen musste und ein breites Grinsen auf seinem Gesicht hatte. Er hebt den rechten Zeigefinger und ermahnt mich. „No no caliente Felix! Café con leche muy caliente. Señoríta bonito!“ sagt er mit seinem breiten Grinsen und pilgert wieder ein paar Meter vor mir davon.
Wir durchqueren die kleine Stadt Sahagún, vorbei an einigen beeindruckenden Wandgemälden und direkt auf die Plaza Mayor für ein stärkendes Mittagessen und eine erholsame Pause. Hinein in eine hiesige Bar. Müde. Erschöpft. Das Knie schmerzt und ich helfe mit einigen gezielten Massagen, speziell an meiner OP-Narbe von 2008, nach. Schmerzhaft, aber wirkungsvoll. Dazu Übliches zum Mittag und Aurelios Zwei-Zug-Schluck aus dem Bierglas.

Nach erneuter kurzer Verwirrung um den Weg (das scheint sich heute durchzuziehen) folgen wir dem Weg abermals stadtauswärts. Felder. Bäume. An einer kleinen Abzweigung teilt sich der Camino auf – und zeigt zu meiner Verwunderung zwei Optionen an. Für mich war bis Dato der Camino ein einziger, geradliniger Weg ohne Wahlmöglichkeiten. Den gehst du. Der ist so angelegt. Wenn du dem Weg folgst, kommst du an. Gehe nicht über Los. Gehe keine Umwege. Mach das einfach so wie es da steht. Ende.

Rote oder blaue Pille?

Und urplötzlich habe ich eine Wahlmöglichkeit, beide Optionen bringen mich weiter auf dem Jakobsweg. Beide Wahlmöglichkeiten zeigen die gelbe Muschel auf blauem Hintergrund an. Eine Diskussion zwischen Aurelio, Ivan und mir wird entfacht. Dem Feldweg links folgen oder rechterhand der Straße entlang? Alle sind unsicher, ich frage Google Maps – Fux ist man einfach oder nicht. Und entscheide mich kurzerhand für den rechten Weg (da hätten wir wieder einen Wortwitz) und lasse die beiden Spanier stehen, die sich noch in einer hitzigen Diskussion befinden. Die Einsamkeit tut mir gut, ein Baggerfahrer grüßt mich auf der Straße und tuckert an mir vorbei. Die Freude auf die heutige Ankunft steigert sich, am Wegesrand taucht ein Grabstein auf. „SEP“ steht darauf, sicher das spanische Pendant zu dem bekannten „RIP“. Immer wieder lese ich von verstorbenen, teilweise sehr bekannten Pilgern auf dem Weg, auch heute noch. Und fühle mich erstaunlicherweise in irgendeiner Art mit ihnen verbunden. Obwohl ich ihnen nie begegnet bin, teile ich gemeinsam mit ihnen die Magie des Weges, die einzigartigen Momente, Begegnungen und Erfahrungen, die er mit sich bringt.

Nach weiteren Kilometern auf unserer Strecke erreichen wir bald unser heutiges Ziel, Bercianos del real Camino. An einer Bar gesellen wir uns gemeinsam auf ein gekühltes Bier und schwatzen wie üblich ein paar Worte miteinander. Aurelio telefoniert schon wieder wie wild alle Unterkünfte ab, klingt mürrisch. Ivan und ich allerdings lassen ihn gewähren und unterhalten uns mit dem Barkeeper. Er selbst betreibt auch eine Pilgerunterkunft und bietet uns an, bei ihm unterzukommen. Dreibettzimmer. Direkt über der Bar. Abgemacht. So einfach kann das Leben sein. Kommunikation ist eben doch ab und zu der Schlüssel. Eine Stunde und eine heiße Dusche später finde ich mich in einem bequemen Bett wieder. Und schlafe für 90 wunderbare Minuten tief und fest ein.

Nach diesen erholsamen und akkuaufladenenden Minuten schleichen Ivan und ich später durch die kleine Ortschaft, organisieren uns Dosenbier und Chips im örtlichen Kiosk und genießen am Ortsausgang den Sonnenuntergang. Zum Abschluss gibt es ein dreigängiges Abendessen in der Bar des Herbergsvaters. Nudelsuppe. Vegetarische Burger. Café. Und eine TV-Dokumentation über Fischerei. Highlife mitten in Spanien. Gute Nacht 🙂

Zusammenfassung Tag 14

Ledigos – Sahagún – Bercianos del real Camino
Entfernung: 26,4 km
Gesamtstrecke: 415,8 km
Höhenmeter aufwärts: 228 m ; Höhenmeter abwärts: 248 m
minimale Höhe: 802 m ; maximale Höhe: 892 m
Dauer: 6 h 40 min


Fazit des Tages
 „Nicht jeder Tag ist dazu bestimmt, voranzukommen. Manche Tage dienen der Entschleunigung, der Achtsamkeit mit sich selbst und der Erkenntnis, Schritt für Schritt den Weg zu gehen. Im Leben gilt oftmals der Grundsatz: Ausdauer vor Schnelligkeit.“

Published inJakobsweg - Camino Frances

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Camino - auf dem Jakobsweg
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