Last updated on Juli 11, 2022
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Flix mit dem Bus durch Europa
Paris.
Busbahnhof Bercy Seine.
Nach 12 Stunden direkter Busfahrt quer durch Europa komme ich mehr oder weniger erholt in der großen Stadt der Liebe an. Direkte Busfahrt? Richtig gelesen, von Jena nach Paris fährt ein Flixbus. Für 40€ (bevor die Spritpreise angezogen wurden). Meine Busfahrt startet in Jena 01.30 Uhr, bevor ich in den Bus einsteige sehe ich einen Fuchs über den Busplatz streifen und in ein Gebüsch verschwinden. Die nächsten Stunden verbringe ich im Halbschlaf auf einem halbwegs bequemen Sitz und in Gedanken versunken an die vor mir liegende Reise. Nach mehreren Stops und unzähligen gescheiterten Versuchen des festen Tiefschlafes erreichen wir das erste Ziel – Paris, Busbahnhof „Bercy Seine“.
Vom Busbahnhof „Bercy Seine“ aus navigiere ich mich Richtung „Gare Montparnasse“, erst zu Fuß und später mit der Metro. Heute empfinde ich die Stadt wenig romantisch, eher laut, gestresst und gefüllt mit zu vielen Menschen – ich möchte weiter Richtung französisch-spanischer Grenze und endlich das Pilgerleben erfahren. Nach einer guten halben Stunde erreiche ich den großen Bahnhof und nutze meine restliche Zeit, um die letzten Stunden zu rekapitulieren und einen Kaffee zu trinken.

Der Weg ist das Ziel?
Während ich hier am Bahnhof sitze und den vielen Menschen beim Vorbeigehen, Einsteigen, Verabschieden und Ankommen zusehe, muss ich unwillkürlich daran denken, warum ich mich auf den Weg mache. Um mich mit mir auseinanderzusetzen, zu reflektieren, zu akzeptieren, neue Erkenntnisse gewinnen und vor allem, um mir selbst ein bisschen mehr zu begegnen. Doch gleichzeitig erscheinen mir viele weitere Fragen rund um den Jakobsweg.
Welches Ziel verfolgt ein Pilger auf dem Jakobsweg?
Warum pilgern Menschen endlose Strecken mit minimalem Gepäck?
Geht es um die Suche nach einer Herausforderung?
Geht es um die Suche nach Einsamkeit?
Geht es um die Suche nach sich selbst? Nach Erkenntnissen? Nach Antworten?
Fragen über Fragen ohne zu wissen, welche ich davon beantworten kann und werde. Ich denke darüber nach, welcher Weg der schwierigere sein wird. Der physische Pilgerweg mit seinen endlosen Kilometern, seiner Einsamkeit, seiner einzigartigen Landschaft und seinen steinigen Auf- und Abstiegen? Oder der mentale Weg zu sich selbst, mit sich selbst?
Jeder trägt seinen mentalen Rucksack
Das geografische Ziel aller Pilger ist im Normalfall identisch – Santiago de Compostela. Egal welchen Jakobsweg man wählt, die Richtung ist vorgegeben, man weiß um die Entfernung, um die Höhenmeter, um die körperlichen Anstrengungen, die einen erwarten.
Doch wohin führt der Jakobsweg die Menschen mental, persönlich, psyschisch? Gibt es, wie im Film „Ich bin dann mal weg“ den einen emotionalen Moment, der alles verändert? Gibt es Momente der Erkenntnis? Kann man seinen eigenen, mental vollgepackten Rucksack hier und da ein wenig leichter werden lassen?
Ich spüre, wie mein Körper und mein Geist erwartungsvoll und aufgeregt starten wollen, sich auf den Weg machen, pilgern wollen. Ich bin mir sicher, voranzukommen, weiterzukommen, anzukommen. Und dass die Version von mir selbst, die aktuell am Bahnhof in Paris sitzt und kritisch über all die Gründe für den Jakobsweg grübelt, nicht die Version sein wird, welche in Santiago ankommen wird.

Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, an den Gleisen herrscht nun aufgeregtes Hin- und Her, mein Zug Richtung Bayonne steht bereit, ein TGV, mit 300km/h Richtung Erkenntnis. Von Bayonne aus erreiche ich meinen Startpunkt Saint Jean Pied de Port (Abkürzung SJPDP, wenn ihr es mehrfach ausgesprochen habt, versteht ihr die Notwendigkeit der Abkürzung) in einer knappen Stunde Zugfahrt. In SJPDP habe ich bereits mit der ersten Pilgerunterkunft telefoniert, sie erwarten mich und ich blicke voller Vorfreude auf die Ankunft und die erste Nacht als echter Pilger. Und ich nicke für einen kurzen Moment zufrieden ein.
«Reisen sollte nur ein Mensch, der sich ständig überraschen lassen will.»
Oskar Maria Graf
Jede Reise beginnt mit einem Plan…
… und jeder Plan wird auf Reisen früher oder später über den Haufen geworfen. So auch in meinem Fall, denn nach meinem kleinen Nickerchen wache ich verwundert auf und stelle fest, dass wir uns seit Ewigkeiten nicht mehr fortbewegen. Und wir steh’n, steh’n, steh’n, wir steh’n hier rum. Seit knapp einer Stunde kein Vorankommen, meinen Anschlusszug nach SJPDP erreiche ich heute nicht mehr, es ist bereits 19 Uhr und es gibt keine Möglichkeit mehr, mein heutiges Ziel zu erreichen. Also versuche ich kurzerhand, Unterkunftmöglichkeiten in Bayonne zu organisieren – und wie es Murphys Gesetz so möchte – kaum Internetverbindung, die Websiten laden nicht und ich habe keine Ahnung, wo ich heute übernachten soll, geschweige denn, wann wir ankommen. Nach etlichen Versuchen gebe ich es auf, schreibe ein paar Whatsapp Nachrichten (auch mit langsamen Internet und Geduld machbar) und erhalte eine halbe Stunde später eine Buchungsbestätigung eines Hotels direkt am Bahnhof in Bayonne – meine Freundin hat mir kurzerhand eine Übernachtung organisiert! Und bereits hier zeigt sich das Besondere am Reisen und an spontanen Planänderungen – mit Untersützung lassen sich auch ungeplante Probleme einfacher lösen, als man denkt.
Bayonne – guter Hafen
Die Bedeutung des Stadtnamens trifft hier eindeutig zu – hier werde ich heute sicher auf meinem ersten Halt der Reise unterkommen. Kurz vor 21.00 Uhr erreiche ich die Stadt am atlantischen Ozean und schaffe es noch rechtzeitig zum hiesigen Supermarkt – Verpflegung für den morgigen Tag besorgen (weiße Schoki, du wirst mir morgen den Tag retten, auch wenn du es noch nicht weißt) und ein Getränk, um damit einen Augenblick am Wasser zu verweilen.

Das Hotel Cote Basque wird heute mein Gastgeber sein und mir wird bewusst, dass dies möglicherweise die letzte bequeme Nacht für eine sehr lange Zeit werden könnte – Pilgerunterkünfte sind preislich erschwinglich, aber Privatssphäre und Luxus kann man meist nicht erwarten. Doch auch das ist Teil des Jakobsweges – Dinge schätzen zu lernen, minimalitisch zu leben, den Moment zu genießen und dankbar zu sein für das, was ist, was kommt und was man bei sich trägt. Und dank der Zugverspätung blicke ich am Abend in Bayonne auf eine fantastisch beleuchtete Brücke – es hätte also viel schlimmer sein können.
Gute Nacht Bayonne, bis morgen Camino!
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