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Tag 9 | Bayern, des samma mia!

Last updated on Juli 11, 2022

Geschätzte Lesedauer: 9 Minuten

Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft

Trotz einer erholsamen Nacht und ausreichendem Schlaf wache ich gegen 7.30 Uhr auf. Vernebelt. Kaputt. Erledigt. Die letzten Tage nagen an meinen körperlichen Reserven, zehren Energie und fordern mich jedes Mal aufs Neue hinaus. Ich schätze mich selbst als körperlich fitten Menschen ein, der solchen Herausforderungen gewachsen ist, der die Zähne zusammenbeißen kann und weitermacht, auch wenn es unbequem wird – aber dieser Jakobsweg ist ein echt straff, straff, straff. Ich ziehe vor jedem einzelnen Pilger, egal wie fit oder nicht, den Hut. Denn sich auf den Weg zu machen, sich herauszufordern, sich schmerzenden Beinen, Füßen und endlosen Wegen hinzugeben, ist einfach gesagt, aber nicht einfach so gemacht. Man ist eben nicht einfach mal so weg, sondern man ist einfach mal ewig lang unterwegs. Und verdammte Hacke, es gibt Menschen, die pilgern das Ding im Rollstuhl, mit nur einem Bein oder blind! Leute – ihr seid meine absoluten Helden und Stars, ihr motiviert, inspiriert und habt einfach ein riesen Paket Eier in der Tasche!
Doch nicht nur physisch bietet der Camino eine echte und ehrliche Herausforderung, auch mental verlangt er dem Pilger eine Menge ab. Die ständige, unaufhörliche Auseinandersetzung mit sich selbst, mit seinen Erinnerungen, Erfahrungen und Gedanken an den Grund der Pilgerreise entziehen dem Akku viel Energie. Manchmal so schnell, dass man dabei zuschauen kann, wie der Zählerstand sinkt.

Dennoch – und das ist sehr beeindruckend an diesem Weg, an der Magie, die er mit sich bringt – schafft man es nach einer gewissen Zeit, das „Früher“ und das „Später“ auszublenden. Es kommt der Punkt, an dem die Gegenwart, das Hier und Jetzt, ein regelmäßiger Begleiter an der Seite des Pilgers ist. Es kommt der Moment, an dem man feststellt, Nichts, einfach Nichts zu denken. Und dieser Moment ist beeindruckend und einfach wunderbar. Denn er gibt Ruhe, Frieden, Sorglosigkeit, Gelassenheit.
Freiheit.

Robinson, unser spanischer Wanderführer

Wir starten 8.15 Uhr aus unserer Pension „Casa Rural“ in den Tag. Es ist Sonntag und daher hat kein einziges Geschäft geöffnet, in der Pension selbst gab es leider keine Frühstücksoption außer ein paar Dekobananen aus Plastik. Glücklicherweise weht uns der Duft von frisch gebackenem Brot durch die Nase und führt uns ein paar Meter die Gasse zurück zu einem kleinen Bäcker – mit wunderbaren Broten, Keksen und Croissants. Nachdem wir uns mit ein paar frischgebackenen und warmen Köstlichkeiten eingedeckt haben, folgen wir dem Weg nun dorfauswärts, vorbei an der Bank, auf der Ivan und ich gestern bereits den Sonnenuntergang bestaunen durften und die uns einen Blick auf den vor uns liegenden Weg gewährt hat.

Jeder von uns läuft für sich, ein lieb gewonnenes Ritual zum frühen Morgen, um mit sich selbst im Tag und auf dem Weg anzukommen. Und um die Landschaft zu genießen, die warme aufsteigende Sonne (Tag 9 in Folge ohne Regen – was kann schöner sein?) und den blauen Himmel über uns. Der Weg führt mal leicht bergauf, mal leicht bergab, meist langgezogen und geradeaus. Ab und an entdecken wir am Wegesrand kleine Bänke oder auch eine große Informationstafel für die vor uns liegenden Etappen des Weges. Obwohl man darauf erkennen kann, wie weit es noch bis zu den einzelnen Stationen, geschweige denn bis nach Santiago ist, lässt mich diese Information kalt. Denn mittlerweile bin ich seit 9 Tagen unterwegs, habe bereits mehr als 200km des Weges hinter mir und nutze dieses Wissen als Motivation und Erfolgserkenntnis. Noch mehr als 500km bis zum „Ziel“? Pah – kein Ding – läuft! Vamos!
Nach ca. 2h der Wanderung und 8 km Weg erreichen wir die kleine Ortschaft „Viloria de Rioja“ und entscheiden uns, auf dem hiesigen Spielplatz eine kleine Pause einzulegen und die duftenden Leckereien der Bäckerei zu genießen. Während ich auf einer der Schaukeln sitze – die Sonne im Gesicht – erkenne ich von weit weg einen kleinen Hund, der sich durch eine Öffnung im Zaun des Spielplatzes schummelt und auf uns zuläuft. Der kleine wackelt fröhlich zwischen Aurelio, Ivan und mir hin und her, lässt sich mit Streicheleinheiten verwöhnen und schnuppert interessiert an unseren Bäckereileckereien. Nach einer Weile legt er sich entspannt zu Ivan und streckt sich genüsslich und entspannt. Ich entscheide mich dazu, ihn Robinson zu nennen, einfach weil der Name zu ihm zu passen scheint.


Und der kleine Racker entscheidet sich, als wir vom Spielplatz aufbrechen, uns ein Stück zu begleiten und läuft immer fröhlich vorneweg. Interessanterweise läuft Robinson meist an der Seite von Aurelio, der uns ein paar Schritte voraus ist und kein großes Interesse an dem Hund hatte. Die beiden aus kurzer Entfernung zu beobachten erscheint mir wie aus einem Film. Der grimmige alte Mann, der kein Tier wollte und der Hund, der nichts unversucht lassen wird, den alten Herrn doch noch von sich zu überzeugen. Während wir die beiden so beobachten, bekommt Ivan eine Nachricht unseres Hosts in Grañón, ein Labrador einer Einheimischen ist seit heute morgen verschwunden und wir werden gebeten, die Augen offen zu halten. Ich frage nach einem Foto, um die Anfrage in verschiedene Facebook-Gruppen mit Bezug zum Jakobsweg zu posten. Auch dieser Vorfall ist keine Seltenheit auf dem Jakobsweg. Oft folgen einheimische Hunde neugierig den Pilgern und verschwinden dann teilweise spurlos, zum Ärger der ursprünglichen Besitzer. Nun machen auch wir uns wegen Robinson ein wenig Sorgen, dass er irgendwann vermisst werden könnte. Doch der kleine Racker lässt sich nicht einfach wieder zurückschicken und begleitet uns sicher eine gute Stunde auf unserem Weg.

Auf unserem Weg finden wir bisher kein offenes Cafe, kein Restaurant und keine offene Bar. Unser Weg führt uns bis nach Belorado – was von Grañón gerechnet ca. 15km entfernt ist. Hunger und Tabakmangel machen Ivan zu schaffen und seine Laune könnte aktuell ein Snickers gebrauchen (oder gern auch zwölf). Ab und an hupen uns energisch LKW-Fahrer zu und heben die Laune ein wenig, was den Hunger allerdings nicht wirklich stillt.
Zu allem Überfluss verlässt uns Robinson nach einiger Zeit und dreht an der kleinen Ortschaft „Villamajor del Rio“ einfach um und läuft zurück nach Hause. Ich vermisse den kleinen Freudenflauschball schon nach kurzer Zeit.
Nach knapp vier Stunden erreichen wir endlich Belorado und pilgern zu einem etwas größeren Platz – und endlich finden wir ein offenes Restaurant- Wie üblich, Huevos fritos con pan, Café con leche. Und Sonne! Was ein wunderbares Gefühl, einfach hier auf dem großen sonnigen Platz zu sitzen, die körperlichen Reserven aufzufüllen und einfach zu sein. Nach der verdienten und langen Pause organisiert Ivan in dem hiesigen Kiosk noch ein paar kleine Muffins und Kerzen, er möchte seinen Geburtstag ausgiebig feiern 🙂

Verdiente Pause nach 4h Pilgerung – Ankunft in Belorado
Eines von unzähligen Kunstwerken auf dem Jakobsweg

Wellness für die Füße und die Seele

Es folgen weitere Kilometer Feldweg bei viel Sonnenschein und einem gut gefüllten Bauch. Teilweise sind die Feldwege hier mit Schnee bedeckt und ich freue mich bereits jetzt sehr auf die Ankunft, denn meine Füße schreien heute aus den dicken Wanderstiefeln, dass sie eine Pause wollen. Brauchen. Und eine Abkühlung. Am „Fuente del Cozzaro“ erfrischen Ivan und ich uns ein wenig – das kalte frische Wasser ist ein Segen für Gesicht und Hände. Aurelio ist bereits wieder über alle Berge und stiefelt uns davon. Woher er diese Energie und Power jeden Tag nimmt, erschließt sich mir nicht. Es ist beeindruckend und erschreckend, wie fit Aurelio ist und uns unsere Grenzen aufzeigt – jeden einzelnen Tag.

Einen knappen Kiloemter vor unserer geplanten Ankunft in Espinosa del Camino muss ich eine kurze Pause einlegen und mich in den Schatten setzen – es ist einfach zu warm in der prallen Sonne. Ivan schreibt mir, das Aurelio bereits eine Bar gefunden hat und es sich in der Sonne bequem gemacht hat. Leicht genervt weiche ich nun Richtung Bar vom Weg ab, ich möchte eigentlich nur ankommen, die Füße hochlegen und mich ausruhen. Ein paar hundert Meter weiter sehe ich die beiden dann endlich. Auf einer Bank vor einer kleinen Bar, daneben ein kleiner Brunnen.

Aurelios Lieblingsbeschäftigung während einer Pause – Austausch mit der Familie

Ich setze mich dazu, der Kellner fragt nach meinem Wunsch und ich frage nach einem Cerveza grande, mucho grande. Der Kellner lacht und verschwindet im Inneren der Bar. Zwei Minuten später taucht er mit einer riesengroßen Salatschüssel auf und fragt mich „mucho grande?“ und lacht herzlich. Und da kommt mir die Idee, ihn um die Schüssel zu bitten, denn der Brunnen neben mir führt kaltes Wasser. Also ab dafür – Schüssel voll, Schuhe und Socken aus, Bääääääämmmm

Ich muss zugeben, Aurelios Drang zu Pausen hat auch etwas Gutes – und Kühles!

Was eine Erfrischung. Dazu ein kaltes Bier und die Sonne voll und ganz auskosten. Jetzt wieder verstehe ich den Ansatz von Aurelio, auch kurz vorm Tagesziel einfach eine Pause einzulegen – sie ist es einfach Wert! Ich habe keine Ahnung, wie lange wir hier sitzen, es sind sicher endlose Minuten, Stunden, Tage – keine Ahnung – es ist einfach wunderbar. Wellness für die Füße, Solarium für lau und bald ein bequemes Bett. Salud!

Im Haus der Seelen

Die letzten Meter Richtung Unterkunft laufen sich dank der Abkühlung wie von allein, dazu ein wenig Musik und gute Laune bei bestem Wetter. Nach den ersten beschwerlichen Stunden des Tages fühlt sich der Weg nun wieder leicht und bequem an. Kurz vor 16 Uhr erreichen wir die „Casa Las Almas“ – das Haus der Seelen – oder wie ich es nennen möchte – das Haus der wirklich guten Seelen.
Die Besitzer der Unterkunft begrüßen uns und zu meiner großem Freude stellen Sie sich sowohl auf englisch, spanisch als auch auf deutsch vor. Sabine und Uli kommen urpsrünglich aus dem Allgäu und haben hier in Espinosa del Camino eine Albergue eröffnet, um Pilgern den Weg zu erleichtern, ihnen eine Bereicherung zu geben und selbst Teil des Weges zu sein. Beide sind selbst viel gewandert und gepilgert und berichten uns während eines Willkommensgetränkes (Pfefferminztee – einfach der Hammer und saulecker!) von ihren vielen Wanderungen. An der Wand im kleinen Wohn- und Essbereich mit kleinem Bartresen und einer Eckback hängt eine Kreidetafel – darauf handschriftlich festgehalten das Menü für den Abend. Das ist absolute Perfektion und eine authentische und großartige Geste des Willkommenheißens.

Nach einer heißen Dusche und einer langen Pause auf der Bank vor der Casa ruft uns Sabine zum Abendessen hinein. Es gibt selbstgemachten Eintopf, Blaukraut mit Kartoffeln (und Fleisch für die Nicht-Vegetarier) und eine Crema – ein typisch deutsches Sonntagsessen und ein absolutes Highlight auf meinem bisherigen und zukünftigen Camino.
Während der Gespräche erfahre ich nun auch, was es mit den drei großen Etappen des Camino Frances auf sich hat (wie in meinem Beitrag von Tag 2 bereits kurz erwähnt). Uli berichtet uns, dass der französische Jakobsweg inoffiziell in drei große Etappen eingeteilt werden kann.


1. Der körperliche Teil, der sich von SJPDP bis nach Burgos erstreckt
2. Der mentale Teil, welcher von Burgos bis nach Leon führt
3. Der seelische Teil, welcher von Leon bis nach Santiago reicht


Jeder dieser drei Teile stellt eine besondere und einmalige Herausforderung für den Pilger dar. Seien es große Höhenunterschiede und das sich körperlich einlassen auf den Weg (entspricht dem ersten Teil), die mental anstrengenden und herausfordernden langgezogenen Feldwege mit großer Einsamkeit und einem immensen Kopfchaos (entspricht dem zweiten Teil) oder auch die Erkenntnis, bald anzukommen und das Ziel erreicht zu haben (entspricht dem dritten Teil). Natürlich gehen die Teile auch ineinander über und finden sich auch jeweils in den anderen großen Etappen wieder, allerdings steckt hinter der Einteilung des Camino Frances eine gewisse Wahrheit.

Körper – Geist – Seele

Erst alle drei Teile machen den Camino und einen selbst vollkommen, vollständig und ermöglichen einen offeneren, gelasseneren und weiteren Blick auf sich selbst und die Dinge um einen herum. Erst, wenn man den gesamten Camino hinter sich hat, wenn man alle drei Teile gepilgert ist und all die körperlichen, mentalen und seelischen Erkenntnisse erfahren hat, erst dann erschließt sich einem der wahre Wert des Camino und seine wahre Energie.


Liebe Sabine, lieber Uli, ich danke euch für einen wunderbaren Aufenthalt, einen großartigen Empfang, fantastisches Essen und die inspirierenden Gespräche.
Von ganzem Herzen: Buen Camino euch!

Zusammenfassung Tag 9

Grañón – Villamajor del Rio – Belorado – Espinosa del Camino
Entfernung: 24,1 km
Gesamtstrecke: 241,4 km
Höhenmeter aufwärts: 415 m ; Höhenmeter abwärts: 237 m
minimale Höhe: 693 m ; maximale Höhe: 899 m
Dauer: 7,5 h
Fazit des Tages:
„Einseitiger Sonnenbrand kann zwei Gründe haben – du bist Pilger oder LKW-Fahrer“

Published inJakobsweg - Camino Frances

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Camino - auf dem Jakobsweg
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