Last updated on Juli 28, 2022
Geschätzte Lesedauer: 8 Minuten
Schwere Steine zum Frühstück
Beim Aufstehen wusste ich nicht, dass es heute ein besonderer Tag werden würde. Die Strecke war klar. Vor mir liegen heute ca. 42km von Frómista nach Ledigos, oftmals langgezogene Strecken. Die Länge der Tour habe ich gewählt, um speziell in Ledigos übernachten zu können, da mir die Unterkunft besonders gut gefallen hat, die Betten bequem aussahen und mein Bauchgefühl einfach „Ja“ gesagt hat.
Dennoch ist dies eine Etappe, welche von manchen Pilgern gern „umgangen“ wird, sprich einige fahren die Strecke lieber per Bus, Taxi oder anderen Gefährten, um ihrer Magie, ihrer Kraft, ihrer erdrückenden Erkenntnis zu entkommen. Es heißt, dass die Strecke zwischen Frómista und Ledigos zu den härtesten Etappen des Camino Frances gehört. Nicht wegen der Höhenmeter (denn die sind kaum vorhanden), der Etappenlänge (die kann man ohnehin zumeist selbst festlegen) oder anderer geografischer Hindernisse. Viele meiden diesen Teil, da er mental eine absolute Herausforderung sein kann, dich zu Boden wirft, deinen Kopf fest packt und rüttelplattenartig durchschüttelt, wie ein Barkeeper seinen Mixbecher. Und das mitten im Nirgendwo – mitten auf einem einsamen, staubigen, trockenen und verdammt langen Feldweg!
Und ich starte den Tag bereits mit mentalen Steinen im Rucksack – tonnenweise Backsteinen ehrlich gesagt – mit erneut kinoreifen Auszügen familiärer Vergangenheit. Rückblenden einer WG mit meinem Bruder, als er gerade 18 geworden ist und ich erst 15 Jahre alt war. Von Gefühlen der Einsamkeit und der Frage, wieviel „Familie“ man selbst in der Hand hat, hatte, und haben wird.
Das sind doch hervorragende Voraussetzungen, in den Tag zu starten und dem mental herausfordernden Teil des Jakobsweges entgegenzupilgern und sich mitten hinein zu wagen. Buen Camino!
Gracias señor
Kurz nach 7.30 Uhr starten Aurelio und ich heute den ersten Teil unseres Tages gemeinsam. Kurz nach Start erschnuppern wir den Duft von frischem Brot und folgen ihm ein paar Meter zu einer kleinen Bäckerei, die gerade erst ihre Tore geöffnet hat. Also auf ein kleines Frühstück. Hier fällt mir zum ersten Mal auf, wie schnell Aurelio seinen Kaffee hinunterschüttet. Selbst mit Milch ist mir mein Kaffee noch viel zu heiß, er hingegen trinkt das Zeug wie Eistee und grinst mich dabei noch teuflisch an. Spanische Speiseröhren sind offensichtlich sehr speziell – hat jemand dazu Erfahrungswerte?
Wir folgen dem Weg hinaus aus Frómista und erleben einen wahrhaft wunderbaren Sonnenaufgang hinter uns. Immer wieder drehe ich mich um, um das Spektakel einen Augenblick zu genießen und zu bestaunen. Es sind Momente der Stille, der Zufriedenheit und Begeisterung über etwas so „Alltägliches“. Bald schon hänge ich Aurelio ab, da wir heute kaum Worte miteinander tauschen und feststellen, dass jeder sein eigenes Tempo laufen möchte. Also folge ich dem Impuls und pilgere nun allein vor mich hin, immer entlang langer, einsamer, gerader Feldwege. Immer wieder fallen mir die Augen zu, ich bin müde, innerlich erschöpft, ausgelaugt. Höre hin und wieder etwas Musik, um mich abzulenken und der Einsamkeit ein Stück weit zu entgehen.
Nach einigen Kilometern (und immer wieder liest sich immer wieder so einfach und leicht, dabei sind mittlerweile bereits 2h vergangen) treffe ich auf Aurelio, der Fuchs hat abgekürzt! Während ich langen Feldwegen gefolgt bin, ist er einfach entlang der Hauptstraße gepilgert und hat damit gut 1-2km abgekürzt – ich wusste doch, dass der alte Spanier betrügt! 🙂
Die Strecke zieht sich nun wieder lang und Richtung Carrión de los Condes – meinem ersten Halt des Tages – und hier habe ich bereits fast die Hälfte der gesamten Strecke des Tages absolviert und es ist bereits 12 Uhr (und hier sieht man mal wieder, wie schnell man 21km niederschreiben kann – vielleicht schreibe ich ab jetzt pro Kilometer einfach so viel Text, dass man damit je eine Minute Text zum Lesen hat 🙂 ). In Carrión de los Condes lege ich eine Pause in einer kleinen Bar „La Muralla“ ein, bestelle Café und Tortilla de Patatas, bedanke mich beim „señor“ und werde dafür gerügt, denn bei dem von mir angesprochenen „señor“ handelt es sich um einen etwa 20-Jährigen Barkeeper. Er erklärt mir, dass nur „ältere“ Personen so angesprochen werden, eine genaue Altersgrenze gibt er mir allerdings nicht. Aurelio, der bereits kurz nach mir in die Bar gekommen ist, beobachtet die Diskussion von seinem kleinen Tisch aus und grinst hämisch in sein Bierglas hinein.
Keine halbe Stunde später und mit dem Wissen, weitere 21km vor mir zu liegen zu haben, verabschiede ich mich vom Barkeeper und von Aurelio und folge Carrión de los Condes stadtauswärts. In einer kleinen Gasse decke ich mich noch mit zwei Tafeln Schokolade und einer Flasche „Wasser“ ein. Dieses Wasser wird sich später noch als eine unerfreuliche Überraschung herausstellen. Das Auge bekommt immer weniger Futter, die Häuser werden immer weniger, es folgen ein paar wenige Baumreihen und bald schon finde ich mich auf einem einsamen Feldweg.
Obwohl ich diese Ansicht bereits seit fast zwei Wochen gewohnt bin, ist es heute anders. Denn diese Ansicht wird sich die nächsten 3-4 Stunden nicht ändern. Und mir wenig Möglichkeit auf Ablenkung geben. Und ein Bus fährt hier übrigens auch nicht lang…
Du kannst nicht vor dir selbst davonlaufen
Anfangs aufgrund der vorherigen Pause noch gut gelaunt und motiviert, stelle ich schnell fest, dass die nächsten Kilometer kein Zuckerschlecken werden. Keine Pilgerwanderung wie aus dem Bilderbuch, von der man als erstes berichtet wenn man gefragt wird „Hey, du warst doch auf dem Jakobsweg unterwegs, wie war’s denn?“ . Du willst wissen, wie es war? 16km verdammter Feldweg, den ich hier bereits sein einer Stunde pilgere, sich einfach nichts, aber auch gar nichts verändert und auch nicht ändern wird – der Weg scheint endlos, gnadenlos zu sein. Die Aussicht immer gleich, der Weg immer geradeaus und nirgendwo auch nur ein Pilger. Keine Ablenkung. Der Kopf spielt verrückt. Tanzt hin und her. Schaukelt. Spielt Ola Paloma im Dauerschleife. Und verdammte Hacke – es ist scheiße warm, Anfang Februar und ich schwitze wie ein Schwein – wenigstens hab‘ ich genug Wasser dabei – aus Fehlern kann man also doch lernen.
Er hatte entdeckt, daß es nötig gewesen war, alleine zu sein, um sich selbst zu begegnen.
„Komm, ich erzähl dir eine Geschichte“ | Jorge Bucay
Du willst den Jakobsweg pilgern, ein paar schöne Tage verbringen, romantisch bei schöner Hintergrundmusik dem Sonnenuntergang entgegenpilgern? Dann ist das hier diese Etappe Nichts für dich. Diese Etappe kriecht tief, tief in deinen Kopf. Zieht alles raus, was nicht festsitzt, was dich grübeln lässt, zweifeln, nachdenken. Und wirft es dir Stück für Stück vor die Füße. Zeit genug ist ja. Weglaufen kannst du nicht. Zurück auf Anfang? Ist auch nicht. Ablenkung – keine Chance. Und jetzt? Ganz ehrlich? Schreien hilft. Und zwar richtig laut, hört eh keiner, also raus damit. Und wie es hilft und motiviert. Und mich zurück in die Realität holt. Klingt verrückt? Okay 🙂
Zuckerwasser für’s Gemüt
Endlos waren die Kilometer, schmerzhaft für die Füße und mental eine der härtesten Etappen des Jakobsweges, wenn nicht die härteste für den Geist. Ich muss unweigerlich an die drei mexikanischen Schwestern denken, die mir bereits in Roncesvalles berichtet haben, dass sie diese Etappe auslassen werden, um eben dieser mentalen Herausforderung zu entkommen. Aber ohne diese Etappe wäre der Camino Frances nicht vollständig, nicht authentisch, nicht ehrlich. Und nicht so wirkungsvoll.
Und nach dieser endlosen Feldwegromatik erreiche ich „bald“ das kleine Örtchen Calzadilla – hier mache ich an einer Bushaltestelle eine Pause. Kraft und Energie tanken. Schokolade spachteln. Und eine Flasche Wasser in mich hineingießen. Und die Flasche lacht beim Ansetzen laut und lässt mich spucken. Scheiße – das ist Sprite! Ist das ekelhaft! Noch nie habe ich ein Zuckergetränk so sehr verabscheut wie in diesem Moment. Lauwarme, kaum mit Kohlensäure versetzte spanische Sprite – danke auch! Ach was soll’s – auf die letzten 6 Kilometer nach Ledigos.
Die letzte Stunde läuft sich leicht, angenehm, mein Geist taut auf, ich freue mich auf die Ankunft und freue mich auf ein kühles, ehrliches Getränk. Mir kommt ein Pilger mit Hund entgegen, wir unterhalten uns kurz. Er kommt aus Santiago de Compostela und läuft den Camino Frances in entgegengesetzter Richtung – na dann Buen Camino!
Meine Beine melden sich heute, schmerzen, fühlen sich erschöpft an. Aber da leider kein Bus in Calzadilla kam, muss ich wohl weiterpilgern.
Der Weg führt mich nun entlang der Straße bergab und schon bald sehe ich das kleine Dorf Ledigos – mein Ziel für heute. 16.30 Uhr erreiche ich meine Unterkunft, die „Albergue La Morena„, trete ein und schaue zur Bar. Und da sitzt er, in seiner roten Jacke, die Augen aufs Handy gerichtet und ein kühles Bier in der Hand. Ivan! Leck!
Gesund, sicher, dreisam
Und grinst mich an. Ivan, der kleine Lump. Ich freue mich riesig, ihn wiederzusehen und wir stoßen gemeinsam auf den Tag, die Etappe und vor allem auf uns an. Erzählen uns von den letzten Tagen. Ivan’s Kräfte haben ihn heute verlassen und er hatte mit seiner Tour von ca. 17km stark zu kämpfen, um überhaupt anzukommen. Wir stolzieren gemeinsam in die Räume für Pilger, suchen uns jeweils einer der japanisch anmutenden Boxen aus und ich entscheide mich für eine warme Dusche nach dem langen Tag. Und wieder lacht der Jakobsweg – es kommt nur kaltes Wasser. Keine Frauen da – also versuche ich es in der Damendusche – und wieder lacht der Jakobsweg – hier auch nur kaltes Wasser. Also kurz und schmerzlos, kalt abgeduscht. Aber bis auf diesen Temperaturausfall lohnt sich die Unterkunft – chic, gemütlich und das Abendessen gemeinsam mit Ivan und Aurelio gegen 19 Uhr hat es in sich!
Da ich zu dieser Zeit noch vegetarisch eingestellt war, schlägt mir der Kellner einen gemischten Salat vor mit Käse, Obst und Brotsticks. Ich zweifle noch, stimme aber zu. Und bekomme kurze Zeit später eine absolute Vitamin-Käse-Brotstick-Bombe aufgetischt. Und fühle mich nach dem Aufatmen dieser Leckerei so gesund gesättigt wie seit Jahren nicht mehr – ein kulinarisches Highlight auf dem Weg! Dazu reicht uns der Barkeeper Nudelsuppe und Milchreis zum Nachtisch – über den obligatorischen Rotwein brauchen wir nicht mehr diskutieren 🙂
Das spanisch-deutsche Trio ist wieder vereint und wir planen für die morgige Tour eine Etappe mit ca. 26km, um nach den letzten längeren Tagen etwas kürzer zu treten. Gegen 21 Uhr lege ich mich in meine japanische Box, ziehe den Vorhang nach unten und es fühlt sich gemütlich, sicher und warm an. Der perfekte Ort für Erholung und einen freien Geist. Gute Nacht!
Zusammenfassung Tag 13
Frómista – Carrion de los Condes – Ledigos
Entfernung: 42,3 km
Gesamtstrecke: 389,4 km (HALBZEIT!!!)
Höhenmeter aufwärts: 253 m ; Höhenmeter abwärts: 161 m
minimale Höhe: 773 m ; maximale Höhe: 904 m
Dauer: 8,5 h
Fazit des Tages
„Gegen den eigenen Geist zu kämpfen ist härter, als gegen den eigenen Körper zu kämpfen. Manchmal jedoch lohnt sich der Kampf, wenn man am Ende mit beiden Frieden schließen kann“
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