Last updated on April 5, 2023
Geschätzte Lesedauer: 7 Minuten
Verwirrt in den Tag
Ihr ahnt es schon, die Nacht war wie die Nächte zuvor keine besonders gute oder erholsame. Sie war zu kurz, zu oft bin ich wach geworden, habe mich hin und hergewälzt, habe dem Clown in meinen Kopf zu verstehen gegeben, dass er doch bitte und mit aller Liebe einfach die Schnauze halten soll. Dass er mich schlafen lassen soll anstatt wild zu tanzen und mir Bilder aus vergangenen Tagen im Sekundentakt vor die Füße zu werfen. Aber dieser Clown ist hartnäckig, stur und nervt mich seit geraumer Zeit. Ich gebe klein bei, stehe auf und bereite mich auf das Frühstück und den Tag vor. Im Wohnzimmer sitzen wir gemeinsam mit Patricia bei Kaffee, Saft und Toast. Ich verwechsle Tasse und Glas – also trinke ich meinen Kaffee aus dem Saftglas und meinen Saft aus der Kaffeetasse, der Clown in meinem Kopf amüsiert sich prächtig und tanzt fröhlich vor sich hin – der erste Punkt des Tages geht an dich mein Freund.
Bei den Gesprächen mit Patricia erfahren wir, dass auch sie von dem verrückten, dauerbetrunkenen Briten „FGB“ gehört hat und er in vielen Herbergen bereits abgelehnt wurde. Verständlich und zeitgleich sehr traurig.
Anyway, es geht für uns weiter auf dem Jakobsweg, heute mit mehr Höhenmetern Richtung Foncebadón, der letzten Station vor dem berühmten Cruz de Ferro – dem Pilgerkreuz, an dem man mit sich selbst ein wenig mehr ins Reine kommen kann – auch ich werde diesen Ort in besonderer Erinnerung behalten – doch dazu später mehr…
Alles klar, Herr Kommisar?
Patricia gibt uns für unseren Weg noch etwas Proviant mit, wir schreiben ihr eine liebe Nachricht ins Gästebuch und verabschieden uns voneinander. Menschen wie Patricia machen für mich einen großen Teil des Weges aus. Die Gastfreundschaft, die großen und kleinen Geschichten, die Energie die sie ausstrahlen – all das macht den Weg besonders, einzigartig und unvergesslich. Wir machen uns auf den lie letzte Etappe des mentalen Abschnittes des Jakobsweges, morgen startet der Seelenteil, an dem alles zusammenkommt. Die Landschaft wird nun etwas interessanter, wir sehen Berge vor uns, Feldweg und wir passieren die Ortschaft „Murias de Rechivaldo“ – mit einer Bar namens Felix. Eine kleine Tanzeinlage vor der Bar, danach langsam bergauf. Mein Knie fordert kurz darauf eine Pause, jetzt gesellt sich also zum Clown auch noch der körperliche Teufel dazu und will mir den Weg so richtig schön madig machen. Aber Freunde, ich schlepp euch hier durch, ich trag euch den ganzen Weg, egal wie laut ihr seid, egal wie viel Terror ihr machen wollt. Ich mach weiter. Nach einer kurzen Pause bei Kaffee und Snacks.
An uns laufen zwei Pilger vorbei, welche wir später wiedertreffen werden – Marcel und Laura. Er mit schwarzen Haaren, sie schlank und fröhlich lächelnd. Marcel hat eine kleine Box an seinem Gürtel befestigt, es läuft Falco „Alles klar Herr Kommisar“ dröhnt aus der Box. Während die beiden an uns vorbeilaufen, grinst Marcel in meine Richtung und singt lauthals mit. Ich muss lachen und für einen kurzen Moment wissen Clown und Teufel nicht, wie sie mir diesen Moment zerstören können 🙂
Auch wir entscheiden uns für Musik, die Stimmung wird besser, der Weg etwas angenehmer. Ab und an stoße ich mich an Ästen, an einem Ast bleibe ich unangenehm mit meinem Arm hängen. Outsch – zum Knieschmerz gesellt sich also auch noch der Schmerz am Arm. Es läuft rund für Clown und Teufel. Ab und an legen wir Steine an Pilgerstatuen ab. Manchmal fühlt es sich so an, als ob man mit jedem Stein, den man ablegt, auch ein wenig Schmerz, Ärger, Sorge und Trauer ablegt. Als ob man seinen mentalen Rucksack etwas leichter werden lässt. Als ob diese kleine Geste eine Art Versuch des Abschlusses, des inneren Friedens und des Loslassens ist. Und all diese Gedanken werden mich morgen auf dem Cruz de Ferro volles Brett umhauen und mir sämtliche Kontrolle über meine Emotionen nehmen. Nur weiß ich das noch nicht… 🙂
Von Pausen und schmerzvollen Aufstiegen in die Freiheit
Ein Schild folgt – 250km bis Santiago! Nur noch 250km! Ein fantastisches Gefühl, ein motivierendes Gefühl. Wenngleich das Knie immer mehr Schmerzen fühlt. Ich packe meine Wanderstöcke aus und versuche meine Beine etwas zu entlasten. Wir passieren Rabanal de Camino und sehen vor uns den „Green Garden“, eine Art Garten mit Sitzmöglichkeiten direkt an einem kleinen Kaffee. Und wir hören Musik, die aus einer kleinen Box dröhnt. Und sehen Marcel und Laura, beide aus Spanien, kaffeetrinkend und grinsend vor uns sitzen. Ein fantastischer Platz für eine lange Pause, Musik und gute Gespräche. Inklusive Kaffee und gutem Essen. Bald darauf gesellt sich Theresa zu uns, Ivans Augen funkeln und sie unterhalten sich angeregt. Sie stammt aus der Bodensee Region und hat durch die Coronapandemie ihren Job verloren. Sie war bereits auf dem Jakobsweg unterwegs, musste allerdings eine Pause einlegen und möchte ihn nun zu Ende pilgern.
Die Sonne und die Gespräche füllen meinen inneren Akku, ich genieße die Auszeit, die Aussicht und die Gesellschaft der Pilger. Ab und an gesellt sich ein kleiner Hund zu uns, der sich ausgiebig von alles streicheln lässt.
Nach mehr als 90 Minuten starten wir auf die letzten Kilometer – straff bergauf und Richtung Unterkunft. Und das Knie schreit auf. Jeder Schritt ist ein Kampf, jeder Schritt schmerzt. Offensichlich möchte mein Körper mich nochmal richtig herausfordern. Mich versuchen, in die Kniw zu zwingen. Aber das wird nicht passieren – Schritt für Schritt kämpfe ich mich den Berg nach oben, Ich möchte nicht aufgeben, ich möchte ankommen, weiterkommen. Physisch. Psychisch. Also kämpfe ich weiter, nutze meine Wanderstöcke, mache viele Pausen und beiße mich durch. Und wir kommen gegen 16 Uhr am fast höchsten Punkt unserer Reise an – Foncebadón.
Massagen, Wein und Voltaren
Marcel und Laura folgen bald darauf und kommen an der gleichen Herberge an, wir setzen uns auf einen gemeinsamen Drink auf die Terrasse vor der Pilgerunterkunft und genießen die Aussicht und die Sonne in unseren Gesichtern. Der Haushund, der wahrscheinlich eher ein Kalb werden wollte, wandert um uns herum und wirkt wenig interessiert an Gesellschaft. Ich lege mein Bein hoch, massiere es und genieße den Rotwein. Im Zimmer der Unterkunft unterhalte ich mich mit einem anderen Pilger, der in 7 Tagen in Santiago sein muss (ich werde es in ca. 10 Tagen schaffen) – er hat Geldsorgen und muss seinen Flug erwischen – das bedeutet für ihn die ein oder andere Busfahrt. Nach einer heißen Dusche, viel Voltaren auf dem Kniw und einer intensiven und schmerzvollen Massage geselle ich mich wieder zu den anderen Pilgern nach draußen. Es folgen kurze Gespräche über die Top 10 deutscher Wörter und über unsere Erlebnisse mit komischen Gestalten auf den Jakobsweg (wozu wir offensichlich ebenfalls gehören). Marcel bezeichnet mich nach kurzer Zeit als aufrichtigen, ehrlichen und fröhlichen Menschen und schenkt mir damit einen wunderbaren Moment der Freude und der Ablenkung von meinen Knieschmerzen.
Im „Wohnzimmer“ der Unterkunft, welche auch einen Kamin besitzt, quatscht mich unterdessen ein offensichtlich stark angetrunkener Pole an und versucht eine Unterhaltung mit mir zu führen. Er fragt woher ich komme und entgegnet auf die Antwort Deutschland, dass er noch nie etwas davon gehört hätte und fragt sich, ob das überhaupt in Europa liegen würde. Ob Spaß oder nicht, ich bin zu müde für Small – und Shittalk und winke höflich ab. Im Radio der Unterkunft läuft gerade „Way down we go“ von Kaleo, ich schwelge in Gedanken und die Wärme des Kamins drückt mich förmlich in meinen Stuhl.
Beim Abendessen teilen wir uns zwei Flaschen Wein und erörtern die Erlebnisse des Tages. Und Ivan und Theresa beziehen ihre Betten direkt nebeneinander – das wird noch eine sehr spannende Geschichte mit den beiden 🙂
Zusammenfassung Tag 18
Astorga – Rabanal de Camino – Foncebadón
Entfernung: 25,4 km
Gesamtstrecke: 535,6 km
Höhenmeter aufwärts: 634 m ; Höhenmeter abwärts: 70 m
minimale Höhe: 855 m ; maximale Höhe: 1437 m
Dauer: 7h 20 min
Fazit des Tages
„Auch nach fast drei Wochen ergeben sich neue, tolle Bekanntschaften und große Gespräche dank gemeinsamen Pausen und der offenen Art vieler Menschen – auch der eigenen…“
Sei der Erste der einen Kommentar abgibt