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Tag 20 | Ein ganz normaler Tag auf dem Jakobsweg

Last updated on April 11, 2023

Geschätzte Lesedauer: 5 Minuten

Orangensaft und leichtes Gepäck

Wider erwarten habe ich diese Nacht überraschend gut geschlafen. Das erste Mal seit gefühlten Ewigkeiten. Vielleicht liegt es an den Erfahrungen und Momenten des letzten Tages. An einem leichteren mentalen Rucksack. An weniger emotionalem Ballast, den ich von nun an mit mir rumtrage (oder eben auch nicht). Vielleicht hat diese „Zeremonie“ des Loslassens einen Effekt, eine Wirkung, einen Sinn? (und ja, der Effekt und die Nachwirkungen sind nach wie vor spürbar). Allerdings meldet sich heute wieder das Ohr, es pfeift und pfeift. Leider nicht im Takt oder in einer schönen Melodie – aber sei’s drum, dann pfeifen wir eben gemeinsam.
In der Nacht hat es im Bett neben mir des öfteren ungewöhnlich viel Bewegung gegeben – offensichtlich verstehen sich Theresa und Ivan sehr gut – ob das allerdings lang gut gehen wird, bleibt offen…
Da Theresa morgens noch grummeliger ist als ich, entscheide ich mich dazu, bereits ohne die beiden zu frühstücken. Wobei es sich weniger um ein Frühstück gehandelt hat, mehr um einen Toast mit etwas Butter. Dazu allerdings einen ausgezeichneten Orangensaft, der den ganzen Körper zum Schwingen bringt. Ivan und Theresa gesellen sich später zu mir und wir bereiten uns mental auf den heutigen Tag vor – ich bin gespannt, was ich erleben werde und wer mir auf dem Weg begegnen wird…

Der andere Ivan und der andere Felix

Wir folgen dem Weg hinaus aus der Stadt, entlang des Kastells und viele Treppen abwärts. Der Weg wird bald deutlich schöner, entlang eines kleinen Baches und mit einigen wirklich beeindruckenden Wandgemälden und Zeichnungen. Immer wieder tauchen auf dem Jakobsweg Pilgerzeichnungen auf, teils als kleine Zeichnungen an Laternen und an Brückenmauern, teilweise als riesige Hausgemälde. Und sie sind immer wieder beeindruckend, motivierend und sehr schön anzusehen. Bald finden wir uns auf einem Aussichtpunkt wieder und haben einen Überblick über die Stadt, die jetzt hinter uns liegt – und sie sieht bei Weitem nicht so beeindruckend aus wie beispielsweise Astorga oder Leon.

Bald laufen wir durch ein schönes Viertel mit Tennisplatz , einer schönen kleinen Kirche und einem herbstlichen Gefühl. Als wir die Ortschaft Fuentes Nuevas erreichen, pausieren wir einen kurzen Moment und entdecken am Wegesrand eine Menge Müll. Ein wirklich unfassbar trauriger Anblick, so respektlos mit der Natur und einem Weg, der erleuchten soll, umzugehen.
Hier entscheide ich mich auch, alein weiterzupilgern und nur mit mir selbst zu sein. Mit meinen Gedanken allein zu sein. Mir selbst wieder zu begegnen und nur mit mir selbst zu laufen. Bald entdecke ich ein Wegzeichen, Aufschrift „198,5km“ – leck! Mittlerweile komme ich meinem Ziel Santiago so schnell so nah – so viel Weg liegt bereits hinter mir. So viele Tage des Pilgerns, des Vorankommens, des Mich-mit-mir-selbst-auseinandersetzens. So viele neue Erfahrungen, Erlebnisse und Erkenntnisse. Und so viele kleine Momente der Motivation und der Freude (unter anderem eben solche Wegsteine, die einem den Fortschritt immer wieder deutlich machen).


Auf meinem weiteren Weg treffe ich bald auf einen anderen Pilger, er heißt Felix und kommt aus Deutschland, trägt Glatze und ist etwa zwei Meter groß. Und er erzählt mir, dass er lange Zeit mit einem Ivan aus Spanien gepilgert ist – und ich kann nur noch lachen und den Kopf schütteln. Ivan und Felix *2. Leider trennen sich unsere Wege bald wieder und wir werden uns auf dem Weg nicht nochmal begegnen. Auf meinen letzten Kilometern steht mir plötzlich ein Schäferhund ohne Leine gegenüber und mustert mich. Ich gebe ihm nur zu verstehen, Platz zu machen, zeige mit dem Finger auf den Platz neben mir und sage laut und bestimmt „A qui“ – also hier her. Und zu meiner Überraschung gehorcht er und macht den Weg frei. Geht doch!
Gegen 14.30 Uhr erreiche ich Villafranca del Bierzo und mache mich auf den Weg zur Unterkunft. Für 13 € gibt es hier für mich eine heiße Dusche (und das ist immer wieder ein Segen nach einem Tag des Pilgerns, egal ob 10 km oder 40 km – es ist für den Körper immer ein Zeichen, dass wir angekommen sind), ein Frühstück am nächsten Tag und ein wirklich schlechtes WLAN – sei’s drum, ich hau mich erstmal aufs Ohr und genieße die Ruhe, die Pause und die Knieschmerzen (die ich noch gar nicht erwähnt habe heute 🙂 )

Massagen und Napoli

Ivan und Theresa kommen gegen 16 Uhr am Hostel an. Zusammen mit Tina (welche bereits seit einigen Tagen mit Theresa immer mal wieder gemeinsam pilgert) sind wir heute die einzigen Pilger hier. Marcel und Laura übernachten in einer anderen Unterkunft. Wir beschließen, Pasta zu kochen. Ivan übernimmt den Herd und zaubert und eine sagenhafte Sauce. Wir hören Musik, trinken Wein (ich bleibe heute bei Wasser) und ich versuche, die Wartezeit bis zum Abendessen mit einer ausgiebigen soie schmerzhaften Knie- und Narbenmassage zu überbrücken. Und versuche, den Schmerz wegzumassieren und wegzuatmen. Alle wirken heute aufgedreht und wir hauen uns den Bauch voll mit Pasta und Ivans Sauce. Energiereserven auffüllen. Und die Gesellschaft genießen. Und gegen 21 Uhr lege ich mich bereits schlafen. Ich bin müde. Der letzte Tag wirkt nach wie vor und wird mich noch einige Zeit auf dem Weg beschäftigen. Gute Nacht!

Zusammenfassung Tag 20

Ponferrada – Cacabelos – Villafrance del Bierzo
Entfernung: 23,6 km
Gesamtstrecke: 585,6 km
Höhenmeter aufwärts: 343 m ; Höhenmeter abwärts: 343 m
minimale Höhe: 476 m ; maximale Höhe: 583 m
Dauer: 4h 50 min


Fazit des Tages
 „Durch den Schmerz gehen ist schmerzhafter als es sich anhört

Published inJakobsweg - Camino Frances

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Camino - auf dem Jakobsweg
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