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Ein waschechter Pilger
Guten Morgen Spanien. Guten Morgen Pilger. Hier steh ich nun, kurz vor den Toren Santiagos. Kurz vorm Ziel. Auf dem großen Berg. Und werde in wenigen Kilometern ankommen. Auf meiner Reise zu mir selbst. Auf meiner Reise der Erkenntnis. Der Vergebung. Der Strapazen. Der Erleuchtung.
Gestern Abend hatte auf dem Monte do Gorzo alles geschlossen. Selbst die Getränkeautomaten haben gestreikt. Zumindest habe ich dadurch Geld gespart – auch nicht schlecht. Pilgern heißt ja genügsam leben, minimalistisch. In der Nacht kamen noch zwei weitere Pilger an und haben sich zu mir ins Zimmer gesellt. Leider hat der Kollege sooo hart geschnarcht, dass ich in ein anderes Zimmer geflüchtet bin, um nicht wie ein Panda am nächsten Morgen auszusehen. Nun ist es also soweit, ich pilger die letzten Kilometer auf dem dritten Teil – dem Seelenteil – des Jakobsweges. Und dann?
Das Ziel ist nur temporär
Es ist neblig, ich pilgere bergab. Mit Blick auf die Stadt. Die Stadt selbst ist belebt, laut, nicht so wie erwartet. Allerdings macht mir das Nichts aus. Ich bin in einer Art Trance, gehe Schritt für Schritt die Straßen entlang, suche nach Wegzeichen, nach Orientierung. Baustellen überall, teilweise fehlende Wegbeschilderungen und leider kein Dudelsack, der mich kurz vor meinem Ziel festlich begrüßt und mich musikalisch bejubelt. Denn so werden viele Pilger hier in Santiago begrüßt, von einem Musiker mit Dudelsack, der vor einem kleinen Durchgang zum Platz vor der Kathedrale Dudelsack spielt und hier nochmal emotional was rauskitzelt. Das Ankommen besonders und einmalig macht. Für mich nicht. Sei’s drum, ich hab meine eigene Musik dabei 🙂
Ich erreiche den Platz vor der Kathedrale. Knie mich hin und lasse meinen Rucksack fallen. Die Last von meinen Schultern gleiten. Physisch und mental. Und seelisch. Und blicke auf die Kathedrale. Auf mein Ziel. Meine Motivation. Meinen Weg. Auf mich. Auf das, was hinter mir liegt. Was liegen geblieben ist. Was noch im Rucksack ist. Physisch und mental. Und auch hier fallen ein paar Tränen auf den Platz. Ivan erscheint und umarmt mich. Mein Wegpartner. Mein Wegbegleiter. Mein spanischer Freund. Und ich kann euch sagen, Umarmungen sind einfach die wertvollste Währung. Sie sind ehrlich. Voller Emotion. Voller Energie. Und durch nichts zu ersetzen.
Und dennoch, so sehr ich diesem Moment engegengefiebert habe, so sehr ich erwartet habe, dass dieser jetzige Moment des Ankommens etwas tief in mir auslöst, verändert und den Schalter umlegt – es bleibt aus. Kein Schalter. Kein Aha-Moment. Keine Eingebung, Vergebung oder Erleuchtung hier vor meinem physischen Ziel auf dem Weg.
Habe ich zu viel erwartet? Zu oft darüber nachgedacht, wie es sein wird, anzukommen? Es mir zu oft vorgestellt, als dass ich es jetzt hier wahrhaftig genießen und wahrnehmen kann? Ist es einfach zu viel für Körper und Geist? Zu sehr gewollt? Ist es überhaupt nicht DAS Ziel des Weges? Ist der Weg viel viel mehr als die Ankunft? Geht es womöglich viel mehr darum, den Weg zu gehen, ihn zu erleben, ihn zu genießen und um die eigene Veränderung, um das Ziel zu erreichen? Geht es womöglich viel mehr darum zu erkennen, was man selbst tun muss, um anzukommen? Und am Ende des Weges zu erkennen, was nötig war, was man verändern, loslassen und akzeptieren musste, um sein Ziel zu erreichen? Und rückblickend sagen zu können „Ich bin nicht mehr die Person, die den Weg begonnen hat. Ich habe mich verändert, verbessert, habe akzeptiert und losgelassen“? Ziemlich viel, so früh am Morgen oder? 🙂
Ivan und ich gehen frühstücken, treffen auf Laura und Marcel, beide sind mit dem Taxi angereist. Ihr Fuß spielt verrückt. Gemeinsam machen wir uns auf ins Pilgerbüro, unsere offizielle Urkunde entgegennehmen. Also zeigen wir unseren Pilgerpass vor, voll mit Stempeln aus ganz Spanien und werden freundlich begrüßt. Ich erhalte zwei Urkunden oder „Compostela“. Eine, die mir bescheinigt, gepilgert zu sein, die zweite, welchen Weg und welche Distanz ich gepilgert bin. Ziemlich cool, so ein bisschen wie auf dem Treppchen zu stehen und stolz auf die eigene Leistung zu sein. Ich ergattere im Pilgerbüro noch ein Armband, danach schauen wir uns gemeinsam die Kathedrale von innen an. Kurze Momente des Schweigens und Zusammenseins.
Denn: Ich habe beschlossen, hier nicht zu verweilen. Ich werde bis an die Westküste pilgern, den „Camino Fisterra“ pilgern. Definitionsgerecht kein Jakobsweg, da er von Santiago wegführt. Aber dennoch ein sehr wichtiger, da er zum berühmten Nullstein führt. Also zum Wegstein, der 0,00km anzeigt und damit das damalige „Ende der Welt“ repräsentiert.
Und Ivan? Er kann nicht mitkommen, er ist absolut erledigt und platt, sein Körper hat den Geist aufgegeben, er muss pausieren und wird sich hier in Santiago ausruhen.
Und ich? Verabschiede mich von meinen Freunden mit einem lachenden und einem weinenden Auge, bevor mir Marcel einen kleinen Stein in die Hand drückt und ich ihm verspreche, diesen in Fisterra abzulegen oder auf einem weiteren Jakobsweg mit mir zu führen. Und bevor es mich emotional zu sehr mitnimmt, drehe ich mich um und folge dem Weg hinaus aus der Stadt…
Zusammenfassung Tag 27 | 1
Monte do Gorzo – Santiago de Compostela
Entfernung: 4,9 km
Gesamtstrecke: 767,2 km
Höhenmeter aufwärts: 53 m ; Höhenmeter abwärts: 163 m
minimale Höhe: 254 m ; maximale Höhe: 373 m
Dauer: 1 h
Fazit des Tages
„Der Weg gibt dir nicht das, was du willst. Sondern das, was du brauchst.“
Im Westen nichts Neues
Die letzten Etappen meiner Reise bis an die Westküste starte ich nun allein. Aber nicht einsam. Außerhalb Santiagos blicke ich zurück und vergieße ein paar Tränen. Die letzten Tage sind aber auch emotional geprägt hier. Ich pilgere weiter. Mit viel Musik. Mit Freude und Motivation. Feldwege abwärts. Schöne Landschaft. Allein Richtung Westen. Immer wieder großartige Häuser, ein Jogger läuft an mir vorbei. Wolken. Nach und nach werde ich müde, brauche eine Pause und stoppe an einer Bar. Zwei Pilger sitzen bereits drin. Ich gönne mir die Klassiker. Und gebe dem Barmann ein Trinkgeld. Er möchte sich revanchieren und stellt mir eine kleine Schale mit Snacks, Kartoffeln und Würstchen hin, welche ich allerdings ablehne (da ich zu der Zeit noch vegetarisch gelebt habe). Von nun an straff bergauf, ich pausiere oft, trinke viel Wasser und erfrische mich an einem kleinen Brunnen. Die letzten vier Wochen hat mein Körper Höchstleistungen vollbracht und ich möchte ihm, wann imer er danach verlangt, eine Pause gönnen. Schöner Dörfer vor mir, Brücken überqueren und immer wieder beeindruckende Landschaft.
15 Uhr erreiche ich mein Tagesziel für heute – Negreira. Gönne mir ein Pils, rufe in der Albergue nebenan an. Geschlossen. Also muss ich weiter des Weges und eine Albergue leicht außerhalb der Stadt aufsuchen. Einzelbetten, ich teile den Raum mit zwei weiteren Pilgern, offenbar Vater und Sohn. Eine heiße Dusche. Spartanisches Abendessen und Ruhe. Des Pilgers Alltag. Gute Nacht Camino.
Zusammenfassung Tag 27 | 2
Santiago de Compostela – Trasmonte – Negreira
Entfernung: 21,1 km
Gesamtstrecke: 788,2 km
Höhenmeter aufwärts: 584 m ; Höhenmeter abwärts: 676 m
minimale Höhe: 50 m ; maximale Höhe: 276 m
Dauer: 4 h 10 min
Fazit des Tages
„Ich habe den Weg allein begonnen. Und ich werde ihn allein beenden. Aber ich bin nicht einsam, denn alle sind bei mir.“
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