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Mein Jakobsweg | Von neuen Wegen und Entscheidungen

Last updated on Oktober 15, 2023

Geschätzte Lesedauer: 25 Minuten

Prolog

29 Tage auf dem Jakobsweg – so schnell die Entscheidung getroffen war, so sehr sich manche Tage, manche Strecken und manche Gedanken und Emotionen gezogen haben, so schnell bin ich an meinem Ziel angekommen. Unzählige Eindrücke in mir, unzählige innere Kämpfe, unzählige Emotionen und Gedanken. Und Momente, die mir bis heute in Erinnerung sind. Die mich begleiten, mich motivieren, mich antreiben und mich keine einzelne Sekunde daran zweifeln lassen, ob der Jakobsweg eine gute Entscheidung war. Die Entscheidung für den Jakobsweg habe ich im richtigen und wichtigen Moment getroffen. Ich habe aus einer fixen Idee Wirklichkeit werden lassen. Mich auf den Weg gemacht, Zu mir selbst und auf den Weg in die Selbsterkenntnis. Auf den Weg in eine größere Freiheit. Für mich. Und ich bin der festen Überzeugung, dass jeder und zu jeder Zeit einen Jakobsweg pilgern kann und sollte. Unabhängig von den individuellen Gründen. Seien es religiöse, spirituelle oder rein persönliche Gründe, wie etwa eine Krise oder gar Lebenskrise. Der Weg selbst wird diese Krisen nicht innerhalb kurzer Zeit auflösen, er wird keine Wundermittel bereithalten, die alles verschwinden lassen, was uns bedrückt und uns beschäftigt. Er gibt uns keine Ratschläge oder Hilfestellung.
Der Weg ist letztlich nur ein Weg.
Ausgeschildert.
Und zeigt uns wohin wir uns geografisch orientieren sollten. Doch alles, was auf dem Weg passiert, was wir erleben, was wir empfinden, was wir denken, wem wir begegnen und was wir daraus machen und interpretieren, liegt ganz allein in uns.
Ist ganz allein unsere Entscheidung.
Unsere Freiheit.
Einen Blog über den Jakobsweg zu schreiben hat sich manchmal so angefühlt, als wäre ich ihn ein zweites Mal gelaufen. Als hätte ich mir beim Pilgern über die Schulter geblickt. Und mich manchmal selbst angefeuert. Mich motiviert. Und viele der Gedanken und Emotionen nochmals erlebt und gefühlt. Als wäre ich mir selbst meine eigene Begleitung und Unterstützung gewesen. Und habe manchmal voller Vorfreude aufgeregt auf den nächsten Tag gewartet.
Anfangs war ich mir nicht sicher, ob ich all die Erlebnisse und vor allem Gedanken und Emotionen teilen sollte. Teilen möchte. Aber vor allem teilen kann.
Denn viele der Beiträge enthalten intime Gedanken.
Intime Emotionen.
Und viel Schmerz.
Leid.
Trauer und Traurigkeit.
Viele Dinge, die mich vor, auf und auch nach dem Weg belastet haben. Mir Energie geraubt haben. Und mich in meinem Alltag beeinflusst haben.

Aber sie enthalten viel mehr die Dinge, die mich ausmachen. Ausgemacht haben. Stärker gemacht haben. Zu dem gemacht haben, was ich bin.
Und all das hat mit einer kleinen Idee, mit einem kleinen Funken und einer großen Menge Mut und vor allem Sturheit begonnen.
Der Weg ist, wenn du ihn gehst.


Ich danke dir dafür, dass du den Weg gemeinsam mit mir gegangen bist, ihn verfolgt hast, vielleicht sogar mitgeweint oder mitgelacht hast. Mitgefiebert. Mich begleitet hast. Gedanklich. Emotional. Mit Nachrichten aus der Ferne. Vielleicht sogar ähnliche Gedanken oder Emotionen in dir aufgekommen sind. Du dich vielleicht selbst erkannt hast. Inspiration oder Mut gefunden hast. Und dir selbst einen Eindruck davon verschaffen konntest, wie kraftvoll der Weg sein kann, wenn man ihn geht.

Das Ende meines Jakobsweges

Da war er nun, der Tag nach dem Ende meines Jakobsweges. In einem kleinen Hotel in Fisterra am Ende der Welt. Ivan, Theresa und ich frühstücken in einem verglasten kleinen Hof mit Blick auf den Strand, mein Geist ist bereit, zu pilgern.
Zu gehen.
Voranzukommen.
Doch heute ist der erste Tag, an dem ich die Wanterstöcke und die Wanderschuhe im Rucksack lasse. Ein sehr ungewohntes, befremdliches Gefühl. Als ob etwas fehlt. Als ob etwas nicht richtig sei. Nach dem Frühstück fahren Iva, Theresa und ich zurück nach Santiago, 90km Straße. Mit dem Auto! Ich bin seit vier Wochen kein Auto gefahren und habe auf meinem Weg ganz vergessen, wie schnell, wie hektisch und rasant man sich als Mensch fortbewegen kann. Die 90km, für die ich von Santiago nach Fisterra drei Tage gebraucht habe, rockt Ivan in einer Stunde runter. Und ich sitze ungläubig auf dem Beifahrersitz und versuche die Landschaft und du Umgebung aufzusaugen – vergeblich. Nur wo du zu Fuß warst, bist du wirklich gewesen – mehr als ein Spruch. Wohl eher die nackte Wahrheit.
In Santiago am Bahnhof angekommen, setzen wir uns ein letztes Mal gemeinsam in eine kleine Bar und stoßen unf uns und unseren Weg, unsere Gesellschaft und unseren Erfolg an. Und verabschieden uns.
Vielleicht auf bald.
Vielleicht auf nimmer Wiedersehen.
Buen Camino!
Ich fühle mich taub und leer, etwas orientierungslos. Suche instinktiv nach Jakobswegszeichen. Suche meinen Weg. Weiß nicht, wohin es geht. Fühle mich verloren. Also beschließe ich, mich in meinem Hotel in Santiago auszuruhen. Checke ein. Lege mich aufs Bett. Und schlafe. Ein kleiner Spaziergang durch die Innenstadt, ein paar Geschenke für Freunde und auch für mich einkaufen, danach zurück ins Hotel. Später besuche ich die abendliche Messe in der Kathedrale in Santiago, alles auf spanisch, dennoch sehr bewegend und emotional für mich. Meine Reise des Caminos endet heute und hier. Pilgern werde ich weiterhin. Auf der Suche nach mir selbst. Nach Erkenntnis. Nach Antworten. Nach Glück.
Abendessen. Schlafen. Ich spüre, dass mein Körper und Geist heute nicht zufrieden sind. Nicht ausgelastet. Nicht vorangekommen sind. Und dennoch müde und leer.
Energielos.
Getrieben.
Suchend.
Eine sehr verwirrende, mir unbekannte Mischung.
Der nächste Morgen ähnlich, alles in mir schreit danach, zu wandern. Zu pilgern. Schritte zu tun. Auf etwas hinzuzulaufen. Wenngleich ich nicht weiß, wohin, wie der Weg aussehen wird, wo ich ankomme und wie ich schlafe. Ich frühstücke im Hotel und mache mich auf zum Flughafen, mit dem Bus von der Stadt für einen Euro. Denn heute steht auf meinem Tagesplan die Rückreise nach Deutschland. Über Zürich (und glücklicherweise habe ich meinen Reisepass eingepackt – ich Fux).
Santiago-Zürich-Berlin-Jena. So sieht meine Route nach Hause aus. Übermüdet warte ich Nachts zwei Uhr am Haputbahnhof Berlin auf meinen Zug nach Jena. Der irgendwann bei Sonnenaufgang eintrudelt. Und versuche nicht zu tief einzuschlafen, um meine Station nicht zu verpassen. In Jena angekommen, laufe ich zu einer Freundin, die meine Wohnungsschlüssel für mich aufbewahrt hat, da meine damalige Freundin zu der Zeit nicht in Jena war. Warte vor ihrer Arbeitsstelle, Krankenwagensirenen in der Ferne. Ich bin völlig erledigt, mir ist schlecht und ich überlege, ob es eine gute Idee wäre, mich einfach in den Busch neben mir zu übergeben. Ich lehne dankend ab. Jessy kommt gut gelaunt angeradelt und bittet mich auf einen Kaffee zu sich rein. Ein kurzer Austausch, Orangensaft und Kaffee. Und ich, mit Pandaaugen, anschließend endlich auf dem Heimweg.
Schlüssel in die Tür, hinein in die warme und gemütliche Wohnung, Will nur noch etwas essen und ins Bett fallen. Und mache mich auf den Weg in die Küche.
Bäng. Schlaf kannste direkt mal abhaken du Pilger!
Der ganze Boden nass. Geil. Ich bahne mir den Weg zum Kühlschrank und Gefrierfach. Wie zu erwarten, der Gerät arbeitet nicht schweißfrei. Kein Strom. Also ab zum Stromkasten. Sämtliche Schalter umgelegt. Hallelujah! Welcome back and have fun!
Die Couch schreit nach mir, ich bin seit 36 Stunden auf den Beinen und einfach scheiß müde. Erledigt. Will einfach nur schlafen. Und ankommen. Ach was solls.
Ich schenke mir ein Glas Whiskey ein, bestelle eine Pizza und fange an, die vergammelten Lebensmittel aus Kühlschrank und Gefrierfach zu entsorgen. Und bin froh, dass keines davon von selbst anfängt zu krabbeln. Eine Stunde später ist alles erledigt, der Pizzabote klingelt. Was ein Segen! Gebe ihm Trinkgeld und schmeiße mich auf die Couch. Öffne den Pizzakarton. Bäng. Falsche Pizza. Läuft so richtig bei mir heute. Also beim Pizzaservice angerufen. Bestellung vertauscht. Kann die aktuelle Pizza behalten, neue wird geliefert. In 30 Minuten.
Also warte ich geduldig, hungrig und vor allem völlig übermüdet. Und verschlinge im Anschluss die richtige Pizza innerhalb weniger Minuten. Und schlafe danach tief und fest auf meiner Couch ein. Welcome back Pilger 🙂

Erkenntnisse auf meinem Weg

Kommen wir zum wohl schwierigsten Teil des Camino-Blogs. Den Erkenntnissen, den Lehren, den Dingen, die zählen.
Was bleibt?
Was habe ich gelernt?
Was mitgenommen?
So viel und so wenig.

Bauchgefühl

Die erste und wichtigste Erkenntnis, die mir bis heute im Gedächtnis ist und die mich immer wieder antreibt und motiviert ist die des Bauchgefühls. Das jeder von uns kennt. Das wir nicht wirklich erklären können, nicht wirklich wissen warum und wieso es da ist. Es begleitet uns, es lässt sich nicht wirklich genau beschreiben. Es lässt sich manchmal nicht genau fassen. Es ist mehr eine Ahnung. Ein Kribbeln. Eine Art Energie. Und irgendwie eine Mischung aus Erfahrung, Vorahnung und Wissen. Und viel zu oft sind wir uns dessen gar nicht wirklich bewusst, weil wir zu sehr mit all den Dingen in unserem Alltag beschäftigt sind. Weil wir zu gestresst sind. Zu sehr im Außen. Und manchmal das Bauchgefühl sogar ignorieren, uns nicht hineinfühlen oder ihm einfach nicht vertrauen. Aber es ist da und jeder kennt es. Und nach mittlerweile 33 Jahren „Lebenserfahrung“ kann ich für mich feststellen, dass mein Bauchgefühl mich bisher noch nie im Stich gelassen hat, nie falsch lag und mir immer die richtigen Impulse auf meinem Weg mitgegeben hat. Sei es das Gefühl von „etwas sei nicht richtig“, „mein Gegenüber spielt mit falschen Karten“ oder „ich muss das einfach machen – für mich“. Entscheidungen, die ich von meinem Bauchgefühl abhängig gemacht habe, waren immer Entscheidungen für mich. Für mehr. Für mehr Balance. Mehr Frieden. Mehr Glück. Für Fortschritt. Weg vom Negativ, hin zum Positiv.

Wenngleich viele Entscheidungen mich immer wieder vor Herausforderungen gestellt haben, mich gefordert haben und mich manchmal haben zweifeln lassen. Sei es die Entscheidung gegen eine bis dahin wundervolle Beziehung in Deutschland, die Entscheidung Menschen in der Ukraine zu unterstützen, die Entscheidung für Neuseeland oder auch die Entscheidung, einen „Schritt zurück“ zu machen und wieder als Augenoptiker zu arbeiten. All diese Entscheidungen kamen aus einem Bauchgefühl heraus. Aus einer Idee. Mit einem leichten Gefühl von Schmetterlingen im Bauch die versuchen, mitten durch den Sturm zu fliegen und auf der Suche nach Sonnenschein sind. Und rückblickend betrachtet war keine dieser Entscheidungen einfach, leicht zu treffen oder geebnet mit einem leichten Weg danach. Aber sie waren notwendig, wichtig und richtig. Und ich würde sie jederzeit wieder so treffen. Ohne Reue. Und wenn mein Bauchgefühl mir rät, diese Tafel Schokolade in zwei Minuten zu verschlingen, dann sei es drum, her mit dem Zeug! 🙂

Schmerz und Leid

Die zweite und nicht weniger wichtige Erkenntnis ist mir zum ersten Mal direkt auf dem Jakobsweg in den Sinn gekommen und beschäftigt mich seither fast jeden einzelnen Tag. Treibt mich um und gibt mir immer wieder neuen Stoff zum Nachdenken.

El dolor es inevitable, el sufrimiento opcional.
Schmerz ist unvermeidbar. Leid ist optional.

Schmerz und Trauer werden immer ein Teil unseres Lebens sein. Sie werden uns begleiten und uns immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückwerfen. Sie werden uns herausfordern. Uns manchmal im scheinbar schlechtesten Moment packen, zu Boden reißen und uns all unsere Energie und Hoffnung rauben. Gnadenlos und unwiderruflich. Ich rede hierbei nicht nur vom Verlust von geliebten Menschen. Oder von körperlichen oder physischen Verletzungen. Viel mehr von Momenten des Alltags, von beruflichen und privaten Herausforderungen, meist geballt und nicht enden wollend. Von aufeinanderfolgenden „What the fuck“ Momenten und den immer gleichen Fragen „Warum jetzt“? „Warum ich“? „Warum immer und immer wieder“?
Und schon kommen wir ins Leiden.
Weil unser Fokus nur im Negativ liegt. Und uns manchmal, und da spreche ich auch für mich, uns förmlich darin suhlen und uns „wohl“ fühlen. Uns wohl fühlen im Leid und im Negativ. Und unseren Fokus nicht auf die Dinge richten können, die uns das Leben, der Schmerz und die Erfahrung lehren wollen. Welche Möglichkeiten und Chancen sich daraus ergeben (können). Weil wir manchmal oder besser gesagt viel zu oft nicht in der Lage sind, den Schmerz vollumfänglich zu fühlen und zu spüren.
Aus Angst.
Vor noch mehr Schmerz und Emotionen.
Oder weil wir manchmal einfach nicht wissen, was wir fühlen oder fühlen sollten. Und wir stattdessen versuchen all die Emotionen und den Schmerz zu unterdrücken, in eine Kiste zu verschließen und wegzusperren. Die negative Energie damit unbewusst zu konservieren und uns nie wieder damit beschäftigen wollen.
Und hier kommt der Trugschluss, denn der ganze Scheiß, diese ganze Kiste vollgepackt mit tollen Sachen die das Leben schwerer machen rumpelt gewaltig. Und will geöffnet werden. Und je mehr wir versuchen, sie geschlossen zu halten, um so mehr wird sie rumpeln und irgendwann einen Weg finden, den ganzen Inhalt über uns zu entladen. Und je mehr Kisten wir bereits in unserem emotionalen Schrank gebunkert haben, umso mehr wird uns der ganze Haufen erdrücken. Und zwar im absolut beschissensten Moment.
Ziemlich verzwickte Geschichte wenn ihr mich fragt, klingt nicht wirklich nach „dafür möchte ich mir gern ein Ticket kaufen und mehr von dieser Show sehen“. Hört sich für mich eher danach an, einen anderen Weg einzuschlagen und ein anderes Event zu besuchen. Und wie sieht diese Show nun aus und wo kann ich das nächste Ticket ergattern?
Mit Zeit, Geduld, Selbstliebe und einem anderen Fokus und anderen Fragen. Sehr einfach und sehr schwer zugleich.


Statt den Fokus darauf zu legen, was uns eine Situation, eine Erfahrung oder ein Moment alles Negatives vor die Füße wirft, lohnt sich eine Änderung des Blickwinkels. Eine Änderung des Fokus. Hin zu den Fragen „Was kann ich Positives aus der Situation mitnehmen“? „Welche Chancen ergeben sich für mich daraus“? „Was kann ich ändern“?
Allein ein anderer Blickwinkel kann alles ändern. Denn wir richten den Fokus hin zu den Chancen, den Möglichkeiten und den Dingen, die wir daraus lernen können und die sich daraus ergeben können.
Weg vom Leid, weg vom Negativ.
Hin zur Erkenntnis.
Zum Positiven.
Zu uns selbst.
Und letztlich haben wir es in der Hand, all den Dingen die uns umgeben, die wir erleben und erfahren einen Wert zu geben. Wir können entscheiden, ob wir annehmen und akzeptieren, bereit sind uns hineinzufühlen und wahrhaftig bereit sind, jeden Moment dankbar zu erleben. Und ob wir, rein physikalisch betrachtet, nichts anderes machen als Energie umzuwandeln. Energie geht nicht verloren, sie kann aber sehr wohl umgewandelt werden. In was wir sie umwandeln und wie wir sie nutzen, liegt ganz allein in uns.
Natürlich gelingt das nicht immer, es ist ein langer, schwerer Prozess.
Der immer und immer wieder mit Hindernissen gespickt ist.
Mit Rückschlägen.
Und natürlich auch mit Leid.
Und auch ich erlebe mich nach wie vor in Momenten, in denen ich mich lieber dem Leid ergebe anstatt den Silberstreif zu erkennen. Doch der Zeitraum zwischen Leid und Erkenntnis ist deutlich kürzer geworden. Die Schlagkraft des Leids hat abgenommen. Wurde umgewandelt in Hoffnung, in Handlung und in Dankbarkeit. Hin zu etwas Positivem. Vollumfänglich und unwiderruflich. Unumkehrbar. Und all das beginnt mit dem einfachsten ersten Schritt im gesamten Prozess. Mit der Änderung des Blickwinkels und dem Versuch, aus jeder „schlechten Erfahrung“ etwas Positives und Gutes mitzunehmen.
Ein sehr persönliches und wichtiges Beispiel aus meinem Leben hierfür ist die Beziehung zu meiner leiblichen Mutter.
Geprägt von Ablehnung.
Von dem Gefühl der Wertlosigkeit.
Von dem schrecklichen Gefühl, nie genug zu sein.
Nie geliebt gewesen zu sein.
Nie richtig zu sein.
Und weder verstehen zu können warum noch zu wissen, wie ich das ändern kann. Und auch ich habe jahrelang, jahrzentelang versucht, meine Kiste vollzuladen mit all den negativen Emotionen. Gedanken. Und habe sie verschlossen. Und sie ganz weit in den Keller geworfen, in die dunkelste Ecke. Und all den ganzen anderen Krempel darüber geworfen, um sie nie wieder sehen zu müssen. Spoiler, war nicht wirklich sehr erfolgreich…
Denn die Kiste hat einen Weg gefunden, sich in meinem Alltag zu entleeren. Immer und immer wieder. Sie hat mir all die Dinge förmlich ins Gesicht geworfen, all den Scheiß über mir entladen. Und schlimmer noch, offensichtlich war sie voller beladen als ich mir bewusst war. Es fühlte sich an, als ob aus einer Kiste hundert Kisten geworden sind. Und mir ein unaufhörliches Schlagfeuer an Dreck entgegengeworfen wurde. Dem ich anfangs gut ausweichen konnte, Matrix Style machts möglich. Aber umso mehr ich versucht habe, dem Ganzen zu entkommen, um so mehr wurde mir entgegengeworfen. Und irgendwann trifft dich der Scheiß.
Und zwar mitten ins Gesicht.
Ins Knie.
Ins Herz.
nd reißt dich zu Boden.
Kisten leer und du begraben unter all dem Mist, Dreck und Scheiß. Aufräumen ist angesagt. Sortieren ist angesagt. Aussortieren. Und annehmen. Akzeptieren. Geil! Macht richtig Spaß, ist super einfach und braucht kaum Zeit – Sarkasmus lässt grüßen.
Die Aufräumarbeiten haben viel Zeit in Anspruch genommen. Viel Kraft gekostet. Waren verbunden mit vielen Emotionen, denen ich aus dem Weg gehen wollte. All der Schmerz war wieder präsent. Doch nach und nach, mit Geduld, Zeit, Selbstliebe, Hoffnung und vor allem auch einer immensen Unterstützung von außen (hierbei reden wir vor allem über das Thema therapie und Coaching) konnte ich, begraben unter all dem einen Lichtblick ergattern. Und nach und nach erkennen, dass all die negativen Erfahrungen, Situationen und Erlebnisse dennoch etwas Gutes bereithalten. Und mir die Möglichkeit geben und immer gegeben haben, selbst zu entscheiden, wie ich damit umgehe und was ich daraus mache.
Und so sehr mich die volle Ladung der Kisten getroffen hat, so sehr hat mich eine wichtige Erkenntnis getroffen, sie ich seither nicht mehr verschließen und wegsperren kann und will. Ohne all die negativen, traurigen und nicht wünschenswerten Momente und Situationen, ohne all die Ablehnung, ohne all den Schmerz wäre ich heute nicht da, wo ich bin.
Wäre nicht der, der ich bin.
Ich wäre nicht Ich.
Mit all den positiven und guten Dingen, die ich geben kann, teilen kann und erleben kann. Mit mir allein, mit anderen Menschen.
Ich wäre möglicherweise niemals in Neuseeland gelandet, wäre möglicherweise gefangen in einem Job oder an einem Ort, an dem ich nicht sein möchte. Hätte viel weniger großartige Menschen in meinem Leben.


Diese Erkenntnis hat mich knallhart getroffen, mitten in Neuseeland, mitten auf einer meiner vielen Wanderungen. Und in diesem Moment, in diesem kurzen, intensiven, umumkehrbaren Moment hat sich all die negative Energie, all die Trauer, all der Hass und Ärger in etwas Wundervolles verwandelt. In Dankbarkeit und die Erkenntnis, dass mich all diese Dinge vorangebracht haben. Und mir die Möglichkeit gegeben haben, mich zu entscheiden, wie ich damit umgehe und was ich für mich selbst darauf mitnehmen kann. Und was ich Schönes und Positives in meine Kisten verstauen kann. Oder besser gesagt was ich in meinem Haus ausstellen kann und für mich sichtbar machen kann. Und so sehr ich mir manchmal wünschen würde, verärgert zu sein, wütend zu sein über das, was in meiner Vergangenheit passiert ist, was mir an Liebe und Wert verwehrt wurde – es lässt sich nicht mehr umkehren.
Vom Negativ zum Positiv.
Von Wut, Trauer und Hass zu Dankbarkeit und Erkenntnis.
Von damals zu jetzt.
Zu mir selbst.

Vergebung

Es lässt sich nicht abstreiten, dass der Jakobsweg neben seinen landschaftlichen Highlights und all den Begegnungen auch einen spirituellen und gleichzeitig religiösen Eindruck hinterlassen hat. Spirituell, weil er mich immer wieder dazu gebracht hat, mich mit mir selbst auseinanderzusetzen. Mir selbst zu begegnen. Mich mit meiner Vergangenheit, meiner Gegenwart und auch meiner Zukunft zu beschäftigen. Mich immer wieder in Momente und Emotionen versetzt hat, die aufzuarbeiten waren. Aufzuarbeiten sind. Und die meinen Fokus und meine Aufmerksamkeit einfordern. Und mich dazu gebracht haben und nach wie vor bringen, meinen eigenen Blickwinkel auf die Dinge zu ändern. Nicht, um die Vergangenheit ungeschehen zu machen oder sie gar ändern zu wollen. Aber um ihnen eine andere Energie zu geben. Eine andere Richtung. Einen anderen Grund. Und mir selbst damit die Möglichkeit, in Zukunft unbeschwerter mit ihnen leben zu können, ohne die Dinge einfach in eine Kiste zu verschließen und sie rumpeln zu lassen.
Vieles aus unserer Vergangenheit belastet uns, begleitet uns tagtäglich. Bewusst und viel mehr unbewusst. Beeinflusst unser Fühlen, Denken und Handeln. Ob wir wollen oder nicht. Die Vergangenheit ist Teil unserer Identität. Sie hat uns zu dem gemacht oder besser gesagt uns die Möglicheit gegeben, zu dem zu werden, was wir heute sind und wer wir morgen sein werden. Jede Erfahrung in unserem Leben gibt uns die Chance, daraus zu lernen, daraus zu wachsen und uns zu dem Menschen zu entwickeln, dem wir selbst gern begenen möchten.
Nicht jede Erfahrung, nicht jede Situation und nicht jeder Moment in unserem Leben wird geprägt sein von Glückseeligkeit, von Freudentränen, von strahlenden Augen und Sonnenschein. Manche Momente sind einfach der letzte Scheißdreck, reif für die Mülltonne und einfach unerträglich lang und schmerzhaft.
So einfach ist das.
Und viele Dinge aus unserer Vergangenheit, viele Erfahrungen und Verletzungen sitzen nach wie vor wie ein Stachel tief in uns. Unabhängig davon, ob wir selbst dafür verantwortlich waren oder einfach hilflos zusehen mussten, wie unsere Welt um uns herum zerbricht.
Und hier kommt der springende Punkt. Konnten wir, speziell in unserer Kindheit, den Dingen eine andere Richtung geben? Konnten wir an den damaligen Situation tatsächlich etwas ändern? Mit dem Wissen, den Fähigkeiten und den Fertigkeiten, die wir heute besitzen?
Für mich gibt es eine klare Antwort: Nein!
Als Kind bist du der Willkür deiner Umgebung ausgesetzt. Du bist angewiesen auf Hilfe, Unterstützung, emotionalen Support und auf die Liebe anderer von außen. Als Kind bist du darauf angewiesen, dass dir das richtige Werkzeug in die Hand gegeben wird, dir gezeigt wird, wie man damit umgeht und welche Gefahren und Hindernisse auf dich warten. Und viele von uns haben leider das falsche Werkzeug oder noch schlimmer kein Werkzeug mit auf den Weg bekommen. Einfach weil die Menschen um uns herum selbst mit ihren eigenen Themen viel zu sehr beschäftigt waren, um uns die Aufmerksamkeit und Liebe zu entgegenzubringen, die wir von Anfang an verdient haben.
Einfach weil wir sind.
Die Menschen um uns herum haben schreckliche Fehler begangen. Und uns damit unseren eigenen Weg merklich erschwert. Uns damit unwillkürlich geprägt. Auf eine Weise, die uns immer begleiten wird.
Und an diesem Punkt kommt die Vergebung ins Spiel.

Zu vergeben ist ein langer Weg. Ein steiniger, emotionaler, zeitaufwändiger und energieaufwändiger Prozess. Er erfordert, dass wir uns in eine andere Person (auch in unser vergangenes „Ich“) wahrhaftig hineinversetzen und hineinfühlen können.
Versuchen zu verstehen, warum die Dinge geschehen sind.
Welchen Hintergrund eine Handlung hat oder gehabt haben könnte.
Welche Intention einer Handlung zugrunde gelegen haben können.
Und es erfordert, dass wir Verständnis aufbringen können für unser Gegenüber und uns selbst. Verständnis dafür, dass Menschen Fehler machen. Falsch handeln. Falsche Entscheidungen treffen und andere verletzen. Ob bewusst oder unbewusst, spielt dabei keine Rolle. Es geht vielmehr darum zu erkennen, dass wir nicht fehlerfrei sind.
Dass wir immer Fehler machen werden.
Und dass die meisten falschen Entscheidungen ein Produkt aus unserer eigenen Vergangenheit sind.
Bestimmten Mustern folgen.
Gespickt sind mit Triggern und falschen Annahmen.
Und daraus resultierend falschen Entscheidungen, dir wir, manchmal sofort, manchmal Jahre später, zutiefst bereuen und uns schämen. Weil wir anderen und uns selbst Leid zugefügt haben. Physische und meist psychische Schmerzen bereitet haben. Narben hinterlassen haben. Unseren eigenen Weg und den Weg anderer unnötig erschwert haben.
Und uns oftmals wünschen, wir wären in der Lage, die Vergangenheit zu ändern.
Zu verbessern.
Andere Entscheidungen zu treffen.
Anders zu handeln.
Anders zu agieren und zu reagieren.

Und hier kommt der knallharte Fakt ins Spiel – das ist unmöglich.

Die Vergangenheit ist umumkehrbar.
Unwillkürlich unumkehrbar.
Nicht zu ändern.
Das Geschehene und Gesagte lässt sich nicht widerrufen, abändern, optimieren oder besser wünschen oder beten.
Basta.
Und dennoch gibt es einen Silberstreif, den wir allzugern übersehen und nicht erkennen können, wie viel Freiheit er uns gibt. Der Silberstreif der Vergebung. Der ehrlichen und wahrhaftigen Vergebung. Es geht hierbei nicht darum, Vergangenes zu vergessen, zu verschließen und nie wieder aus der Kiste herauszuholen.
Vielmehr geht es darum zu erkennen, dass wir oftmals in vielen Momenten nicht in der Lage waren, anders zu handeln, anders zu entscheiden und die vergangene Situation anders zu bewerten. Sei es aufgrund fehlender Informationen, Fähigkeiten oder der Tatsache, dass wir aufgrund unserer eigenen Trigger, unserem Ego, unseren Prinzipien (die uns manchmal so sehr im Weg stehen) und unserem Tunnelblick einfach nicht (noch) nicht bereit dazu waren. Menschen machen Fehler.
Menschen verletzen.
Menschen treffen falsche Entscheidungen.
Es liegt nun bei uns, die Situationen und Erfahrungen zu betrachten und aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Es geht darum zu versuchen zu verstehen, warum wir und andere nicht anders handeln konnten oder wollten.
Was mich angeht, versuche ich vergangen Erfahrungen, speziell im Kindesalter, vollumfänglich zu betrachten. Aus einem anderen Blickwinkel. Nicht aus dem des kleinen verletzbaren Kindes. Vielmehr aus dem Blickwinkel meines erwachsenen Ichs. Und ich versuche zu verstehen, warum die Menschen um mich herum so gehandelt haben. Offensichtlich falsche Entscheidungen getroffen haben. Die meine Werte, Glaubenssätze und Gedanken mehr beeinflusst haben, als mir lange Zeit bewusst war. Und ich versuche zu verstehen und zu erkennen, dass es bei diesen Handlungen in den meisten Fällen nicht um meine Fehler und meine Person ging, sondern viel mehr um die Schwierigkeiten und Probleme meines Gegenübers. Und diese Menschen manchmal einfach nicht anders handeln konnten, einfach aus dem Grund heraus, weil sie bereits mit ihren eigenen Dämonen im ständigen Kampf waren (und dies vielleicht nach wie vor sind). Und gerade als Kinder haben wir kaum die Möglichkeit, uns gegen die Willkür von außen zur Wehr zu setzen. Wir sind der Willkür und den Entscheidungen unserer erwachsenen Mitmenschen oftmals hilflos ausgesetzt und müssen uns den Dingen ergeben, die um uns herum und auf uns niederprasseln.


Vergebung.
Unsere Aufgabe als erwachsene Menschen ist es nun, den Dingen einen anderen Fokus zu geben.
Eine andere Energie.
Eine andere Richtung.
Einen Sinn.
Wir sind selbst dafür verantwortlich, wie wir die vergangenen Situationen bewerten, aus Sicht einer hoffentlich körperlich und mental gesunden und reifen Person. Und unsere Aufgabe ist es zu erkennen, dass wir nicht nur unseren Mitmenschen vergeben können, sondern auch uns selbst. Uns selbst vergeben für die Tatsache, dass auch wir (auch im Kindesalter) oftmals nicht anders handeln konnten. Nicht anders handeln durften. Nicht anders handeln wollten.
Vergeben heißt nicht vergessen.
Vergeben heißt, der Vergangenheit eine andere Energie zu geben.
Vergeben heißt, uns selbst aus einem Gefängnis aus Triggern, falschen Glaubenssätzen und Annahmen zu befreien.
Vergeben bedeutet nicht, schwach zu sein.
Wahrhaftig vergeben bedeutet, sich selbst zu lieben und zu erkennen, dass es unsere Chance in eine bessere und friedvollere Zukunft ist.
Vergeben bedeutet nicht, alles zu verzeihen und zu vergessen, was geschehen ist. Aber es gibt uns den Frieden und die Freiheit, die Dinge loslassen zu können. Uns von der Last der Vergangenheit zu befreien und bessere Entscheidungen zu treffen. Und Vergebung bedeutet auch, eine Enschuldigung anzunehmen, die niemals ausgesprochen wurde…

Der Weg danach

Die ersten Tage nach meinem Jakobsweg waren eine völlig neue Erfahrung für mich. Denn zum ersten Mal in meinem ganzen Leben herrschte absolute Ruhe in meinem Geist.
Stille.
Frieden.
Zufriedenheit.
Das Gefühl von wahrhaftigem Glück.
Das Gefüh, richtig zu sein. Einfach zu sein, ohne zu müssen.
Ein Gefühl, das tagelang angehalten hat.
Ohne Druck.
Ohne es zu hinterfragen.
Es war eine gefühlte glückseelige Lethargie, eine Art High-sein.
Mein Kopf war zeitgleich völlig leer und gefüllt mit all den wundervollen Erlebnissen auf dem Weg. Ein unbeschreiblich befreiendes, wundervolles und friedvolles Gefühl.

Und einige Tage später, wie sollte es auch anders sein (denn jedes Gefühl ist niemals Dauergast in uns) hat sich der Clown in meinem Kopf wieder breit gemacht. Ist aus seinem Winterschlaf erwacht und hat wieder angefangen, seine Show abzuziehen.
Such dir Arbeit!
Sei wertvoll für die Gesellschaft!
Fang etwas mit deinem Leben an!
Was glaubst du eigentlich was all die anderen da draußen von dir denken?
Du sitzt hier rum und grinst blöd rum!
Statt zu Pilgern hättest du dich mal lieber um dein Leben gekümmert!
Um eine Karriere!
Um Sicherheit!
Um deine Zukunft!
Du Lappen!
Junge, der Kollege ist aber auch anstrengend kann ich euch sagen. Clown, ich hab dir schon mal gesagt, halt einfach deine Schnauze, du gehst mir ehrlich auf den Sack!
All die guten Erkenntnisse, all die Ruhe, all der Frieden, all die positiven Dinge fingen nach und nach an, zu bröckeln und auseinanderzufallen.
Und wie aus dem Nichts, ergab sich die Möglichkeit, Gutes zu tun. Den Menschen, die aus der Urkaine geflüchtet sind, meine Zeit, meine Energie und meine Aufmerksamkeit zu schenken. Hier darüber zu berichten würde den Rahmen sprengen. Zusammengefasst waren es drei Monate Arbeit in Frankfurt Oder, mehrere Grenzfahrten an die polnisch-ukrainische Grenze, um Geflüchtete sicher nach Deutschland zu bringen. Eine Zusammenarbeit am Hauptbahnhof mit dem DRK und dem THW, einer Hilforganisation „Ukraine Border Kollektiv“ und eine Vielzahl unglaublich großartiger Menschen, die alle ein gemeinsames Ziel verfolgt haben (und es auch nach wie vor verfolgen): den Menschen zu helfen.
Und für mich war es wieder eine Bauchentscheidung. Ohne zu hinterfragen, warum. Wieso. Wie lang. Es war eine richtige und wichtige Entscheidung. Und wir haben gemeinsam viele einmalige und wichtige Momente geteilt. Gemeinsam gelacht. Geweint. Gezweifelt. Gehofft. Und niemals aufgegeben.
Und danach? Kurz und knapp, Umzug von Jena nach Leipzig mit meiner damaligen Freundin, mit einem schlechten Bauchgefühl. Nicht aufgrund der Beziehung, aber aufgrund der Stadt. Einfach weil mir diese Stadt keine Schmetterlinge gegeben hat. Mich nicht berührt oder fasziniert hat. Für mich keine langfristige Option darstellte. Und ich in den darauffolgenden Monaten in eine schlimme Depression verfallen bin. Schreckliche Gedanken hatte. Tagtäglich mit mir, meinen negativen Glaubenssätzen und der fetten Hexe auf mir gekämpft habe. Geweint habe und verzweifelt bin. Nicht wusste, wie es weitergehen soll. Wie ich weitermachen kann. Und in einem Konflikt war mit mir selbst, dem Wunsch die Beziehung aufrecht zu erhalten, mir selbst und anderen gerecht zu werden und weiterhin versucht habe, mein Bauchgefühl zu unterdrücken.
Und hätte ich diesen Prozess weiterhin so verfolgt, würde ich heute nicht mehr sein.
So hart wie es sich lesen mag, so sehr trifft es den Kern, so sehr trifft es die knallharte Wahrheit. Ich habe mir in dieser Zeit selbst am meisten im Weg gestanden, am meisten an mir selbst gezweifelt und mein Bauchgefühl zum Teufel gejagt. Ihm entgegengeschrien, dass es sich zum Teufel jagen soll. Dass ich einen Weg finden werde, mir selbst und meiner Beziehung und den (geglaubten) Erwartungshaltung aller anderen gerecht werden werde. Und habe mich dabei selbst verloren. Im Leid. In Trauer. In Verzweiflung. Und in der Depression.
Ziemlich spannende Wendung nach einem eigentlich „erfolgreichen“ Jakobsweg, nicht wahr?
Noch spannender ist allerdings die Tatsache, wie ich es geschafft habe, aus diesem tiefen, unendlich tiefen Loch herauszukommen. Einfache Antworten mit einem langen Weg.
Therapie.
Coaching.
Sturheit.
Und den drei Erkenntnissen des Jakobsweges.
Bauchgefühl.
Schmerz ist unvermeidbar, Leid ist optional.
Vergebung.

Und mit der Möglichkeit, die Dinge zu machen, die mir Energie geben, mich ausmachen und die Schmetterlinge in meinem Bauch flattern lassen. Canyoning im Allgäu. Natur. Weitblick. Erlebnisse mit naturverbundenen, verrückten und offenen Menschen. Und der Möglichkeit, Chancen wahrzunehmen und Risiken einzugehen (wie beispielsweise als Canyoning Guide in Neuseeland zu arbeiten – das Timing hätte nicht besser sein können letztes Jahr). Dinge zu machen und zu erleben, die mich ausmachen, die mich fliegen lassen, die mir Energie geben und eine positive Ausstrahlung verleihen. Ohne diese Dinge zu hinterfragen oder anzuzweifeln. Oder gar mir darüber den Kopf zu zerbrechen, was andere davon halten könnten (und ich rede hierbei nicht von „mir ist scheißegal was ihr davon haltet“ – den bei den richtigen Menschen ist es nunmal nicht scheißegal).
Ohne all diese Erfahrungen, ohne all den Schmerz, ohne all die Dinge die in meiner Vergangenheit „schief“ gelaufen sind, „falsch“ gelaufen sind und ohne all die „Fehler“, meine eigenen und die anderer Menschen, wäre ich möglicherweise nie den Jakobsweg gepilgert. Hätte möglicherweise nie all die Erkenntnisse gesammelt und konserviert. Wäre möglicherweise nie in Neuseeland gelandet und wäre möglichweise nie meinem Bauchgefühl gefolgt. Nachfolgend betrachtet haben mich all diese Dinge nur auf das vorbereitet, was kam und was noch kommt. Haben mich vorbereitet auf bessere, schönere und wertvollere Dinge. Und haben mir die Möglichkeit gegeben, selbst zu entscheiden, was ich mit all den Dingen in meinem mentalen Rucksack anstelle. Was ich aus ihnen lernen kann. Für was ich dankbar sein kann. Vollumfänglich und ehrlich dankbar.

Epilog

Der Weg gibt dir nicht was, was du willst. Sondern das, was du brauchst. Ich habe oft und lang über die Bedeutung dieser beiden Sätze nachgedacht. Vor dem Weg. Auf dem Weg. Aber vor allem nach dem Weg. Denn was ich gewollt habe, waren Lösungen für kurzfristige Krisen, Schwierigkeiten und Probleme. Ich war auf der Suche nach einer Art Schmerzmittel, nach einer Art Droge, einer schnellen Wunderheilung die mich von all dem befreit, was mich belastet.
Doch bekommen habe ich etwas viel Wertvolleres. Etwas, das mich auf Lebenszeit begleiten wird. Etwas, dass mich verändert hat. Meinen Blickwinkel auf viele Dinge unwiderruflich verändert hat. Mir mehr inneren Frieden und Balance gegeben hat. Weitsicht. Mehr Verständnis für mich selbst und meine Mitmenschen. Mehr Ruhe in meinem Kopf. Mehr mentale Werkzeuge für all die Krisen und Herausforderungen, die da noch kommen. Und die Erkenntnis, dass wir uns alle auf einem Weg befinden, mit unserem eigenen Rucksack voll mit all den Dingen, die uns ausmachen, die uns belasten und die uns motivieren. Und wir, so steinig, schwer und unendlich lang uns der Weg auch vorkommen mag, nur eine Möglichkeit haben, voranzukommen.
Indem wir ihn Schritt für Schritt gehen.


Manchmal allein. Manchmal in Begleitung. Und unser Rucksack manchmal unerträglich schwer ist und sich manchmal federleicht anfühlen wird. Und wir für uns selbst entscheiden dürfen (oder lernen dürfen), wie wir unseren eigenen Weg gehen. Und was wir in unserem Rucksack mit uns tragen wollen und was wir in Frieden und Vergebung auf dem Weg zurücklassen möchten, ohne es zu vergessen.
Der Weg gibt dir nicht, was du willst. Sondern das, was du brauchst.
Buen Camino!

Dein Felix

Published inJakobsweg - Camino Frances

2 Comments

  1. Anita Nöbel Anita Nöbel

    Lieber Felix, wunderbar ein Mensch zu sein und vor allem zu verstehen, dass man einer ist und was den Menschen ausmacht. Die Reflexion über dich ist eindringlich. Wer dich kennt, sollte sie verstehen.
    Ich wünsche dir das Glück des Lebenstüchtigen. Anita Nöbel, deine Lehrerin aus vergangenen Zeiten

    • Liebe Anita,

      ich danke dir von ganzem Herzen für deine Nachricht und freue mich sehr, dass du Teil meines Weges warst und bist. Ich denke, dass uns Reflektieren hilft zu vertsehen, zu lernen und Fortschritte zu machen. Wenn wir bereit dafür sind und erkennen können, dass Vergangenes zwar nicht zu ändern ist, wohl aber anders betrachtet werden kann.

      Alles Liebe aus Wanaka, Neuseeland

      Felix

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