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Tag 11 | Wenn sich Wege trennen

Last updated on Juli 17, 2022

Geschätzte Lesedauer. 9 Minuten

Der Barkeeper, der sich selbst übertrifft

Ich werde von leiser Musik geweckt, das Licht in der großen Pilgerunterkunft wird 6.30 Uhr eingeschalten. Trotz der gestrigen Tour von über 40 km und mehr als 9h auf dem Weg fühlt sich mein Körper überraschend gut und fit an. Ausgeruht. Irgendwie leicht. Bereit für den neuen Tag auf dem Jakobsweg. Meine gesamte Wäsche ist auch über Nacht trocken geworden.
Im Winter, dachte ich, wird es ein großes Problem werden, die Kleidung trocken zu halten und regelmäßig waschen zu können. Aber weit gefehlt – dank Heizungen, Wäscheständern und Waschmaschinen in vielen Pilgerunterkünften läuft das bisher einfacher als gedacht. Uli und Sabine, die Herbergsleute aus Espinosa del Camino, haben uns berichtet, dass sie im Sommer 2021 Pilger zu Besuch hatten, die zwei Wochen in Folge nur Regenwetter hatten und durchweg mit nassen Klamotten zu kämpfen hatten. Da kannst du noch so gute Regenkleidung einpacken – irgendwann knackt die Natur auch diesen Schutz (und auch mich wird es noch ordentlich erwischen auf meinem Weg von Santiago nach Fisterra…).
In Burgos heißt es also: Sachen packen, fertigmachen, starten. Ivan rasiert sich vor unserem Aufbruch (müsste ich auch mal machen – egal, ein Pilger darf sich auch mal einen 10 Tage-Bart stehen lassen, wobei… bei mir sieht ein 3-Monatsbart aus wie ein Drei-Tage-Bart…). Wir frühstücken in einer kleinen gemütlichen Bar „Los Toneles“ und unterhalten uns mit dem hiesigen Barkeeper, der sich mit seinem breiten Körper angestrengt hinter seiner engen Bar hin- und herkämpft.

Er zeigt uns Fotos von seiner Pilgerreise – er hat einige Tagesetappen des Camino Frances absolviert. Ich bin schwer (und das trifft nicht nur auf den Barkeeper zu) beeindruckt. Denn mir vorzustellen, die hinter mir liegenden Etappen mit deutlich mehr Gewicht zu pilgern, treibt mir Schweißperlen auf die Stirn und stechende Schmerzen in die Knie. Was für eine mentale Energie es wohl braucht, sich dieser Herausforderung zu stellen und was dem Körper abverlangt wird. Ich ziehe meine graue Mütze vom Kopf und hebe sie respektvoll dem Barkeeper entgegen, als Zeichen meiner ehrlichen Anerkennung und meines Respekts vor dieser Leistung. Danach starten wir in unseren Tag – auf uns warten 30km Wanderung und Schritt für Schritt ins Ungewisse. Buen Camino!

Immer auf der Suche

Ivan und ich eilen Aurelio schnell davon, denn er ist auf der Suche nach einer Bank, um Geld abzuheben. Es nieselt leicht in Burgos und ist angenehm warm (bei ca. 5 Grad Außentemperatur). Wir kämpfen uns unseren Weg durch die Stadt und sind dabei immer auf der Suche nach dem nächsten Wegzeichen. In den großen Städten findet sich kein klassisches Wegzeichen, wie ein großer Wegstein oder ein hölzerner Wegweiser. Hier helfen uns lediglich meist gelbe Pfeile, zu finden auf Laternen, an Häuserwänden oder direkt auf der Straße. Daher sind wir besonders in den größeren Städten deutlich aufmerksamer, um nicht falsch abzubiegen oder uns zu „verlaufen“.

Unser Weg in Burgos führt vorbei an eisernen Pilgern
Immer auf der Suche nach dem nächsten Wegzeichen (wie hier einem gelben Pfeil)
Der Weg führt uns hinaus aus der Stadt Burgos, es wird immer ruhiger um uns herum

Wir folgen also den gelben Wegzeichen Schritt für Schritt hinaus aus der Stadt, es wird immer ruhiger um uns herum. Vorbei an kleinen Universitätsgebäuden, immer mal wieder zieht ein leichter Duft von Vanillegebäck und Suppe auf und bald treibt es uns hinaus auf große Feldwege und einen Wegstein. Meilenstein! Was lesen wir da auf dem Wegstein? 501km? Bis nach Santiago? Das heißt gleich unterschreiten wir die 500er Marke? Stark! Ein klasse Gefühl und voller Energie – also weiter auf dem geliebten Feldweg nahe der Straße.

Mit Musik gegen die Giganten der Gedanken

Nach einiger Zeit fängt mein Körper an, zu rebellieren, fühlt sich müde an, schlapp. Der anfänglichen Energie des Tages folgt Müdigkeit, Erschöpfung und Lustlosigkeit. Dazu das Gedankenmurmeltier, dass sich heute fröhlich mit dem kleinen Gedankenteufel unterhält und einen Dialog der Giganten startet. Die beiden haben Bock auf eine große Runde Karussell im Kopf – heute lasse ich den beiden ihren Spielraum und sie können sich ein wenig austoben. Ich setze mich mich nahe einer Straße auf einen großen Stein, will meinen Rucksack am liebsten weit wegwerfen. Ivan setzt sich dazu, wir nutzen die Pause für einen Snack, Wasser und um ein paar Bauarbeiter in der Nähe von uns zu beobachten.

Ich spüre, dass ich momentan nicht in der Verfassung bin, groß zu reden oder miteinander zu pilgern. Also läuft jeder für sich mit einigen Metern Entfernung, ich mit Kopfhörern und lauter Musik, um dem Gigantentreffen im Kopf den Spaß zu verderben und sie aus ihrem gemütlichen, warmen Kinosaal zu werfen. Musik ist immer wieder eine Möglichkeit, momentanen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, sich davon abzulenken, neue Gefühle hervorzuholen oder einfach nur, um die Stille zu unterbrechen. Heute ist es eine Mischung von allem. Mal mit Eminem, mal mit den Red Hot Chilli Peppers, mal mit Toto. Musikalische Vielfalt für eine emotionale Achterbahnfahrt (aber ohne Tränen – wie ich bereits geschrieben habe weint jeder irgendwann auf dem Jakobsweg – aber heute wird mir das nicht passieren 🙂 ).
Uli hatte Recht mit dem mentalen Teil des Camino – heute haut er voll rein, landet einige Treffer und zeigt seine vielfältige Technik.
Mein Handy vibriert. Ivan. Er ist vor mir in einer kleinen Bar „Restaurante Pececitos“ im kleinen Örtchen Tardajos und fragt, ob ich ihm Gesellschaft leisten möchte. Und ob!

Tardajos – hier pausiere ich mit Ivan und Aurelio in der Bar „Restaurante Pececitos“
Die Gassen von Tardajos

Café. Ein kleiner Snack. Im TV läuft Fussball. Aurelio und Ivan schnattern ein wenig. Meine Laune bleibt. Und ich verabschiede mich nach einer halben Stunde von den beiden. Erkläre mich kurz. Und stapfe förmlich den Camino entlang, bergauf. Raus aus dem Dorf. Genieße die Landschaft, den Wind, den Anstieg, die karge Kulisse vor mir. Und atme tief durch. Kurze Zeit später holen mich Ivan und Aurelio wieder ein (wie auch immer die beiden das schaffen konnten – ich bin gefühlt die letzten Kilometer marschiert wie ein Wilder). Und wir pilgern gemeinsam weiter.

Der Himmel vor uns zieht auf. Die letzten fünf Kilometer liegen vor uns. Unser Ziel Hontanas ist nicht mehr weit entfernt. Aber mich interessiert das wenig – trotz der baldigen Ankunft und des tollen Wetters kotzt mich der Jakobsweg heute zum ersten Mal richtig, richtig an. Ich möchte hinschmeißen, den Rucksack einfach in die nächste Ecke werfen und mich hinsetzen. Trotzig aufgeben.
Warum? Keine Ahnung.
Lösung? Weitermachen.
Und dann? Überraschung…

Nichts ist für die Ewigkeit

Das Wetter – überragend. Meine Laune – unterirdisch. Der Regenschutz? Fliegt davon und sucht sich seinen Weg über die karge Landschaft. „Geil, selbst der hat keinen Bock mehr“ denke ich mir und muss dabei lachen, eher verzweifelt als belustigt. Beim Schreiben der letzten Sätze fällt mir auf, wie negativ sich das liest – war es an dem Tag auch – und der Hammer ist noch nicht mal gefallen.


Kurz vor unserer Ankunft allerdings holt Ivan den besagten Hammer samt Vorschlag aus der Hosentasche – er möchte weiterpilgern, sich herausfordern, sich weiterquälen. Bäääm. Ich verstehe die Welt nicht mehr.
Unsere Pilgerallianz hat sich in den letzten Tagen so normal angefühlt.
So Selbstverständlich.
So einmalig.
so sicher.
Und Ivan, dieser Egoist (so waren meine ersten Gedanken dazu), der verpisst sich jetzt einfach, macht sein eigenes Ding und muss hier unbedingt den großen Macker raushängen lassen und noch ein paar Kilometer draufpacken. Und haut zum Beginn des mentalen Teils des Jakobsweges volles Brett einen raus.
Ich lasse es sacken, die Ankunft an unserer heutigen Herberge ist mit wenig Freude verbunden, wir stoßen gemeinsam auf Ivan an, auf seinen Weg und seine Entscheidung. Und darauf, dass wir uns wiedersehen werden.
Ich selbst stelle fest, dass ich durch meine beiden Pilgerpartner, vor allem durch Ivan, eine große Sicherheit auf dem Jakobsweg dazugewonnen habe, eine große Energie und die Möglichkeit, sich vertraut auszutauschen.
Wir verabschieden Ivan mit einer festen Umarmung, wünschen ihm einen „Buen Camino“ und lassen ihn ziehen. Obwohl ich ebenfalls überlegt habe, weiterzupilgern, möchte ich den Tag hier in Hontanas verbringen, mich ausruhen. Schlafen. Und schleiche traurig und erledigt in den Schlafsaal in der ersten Etage. Und lege mich erschöpft gegen 16.30 Uhr ins Bett.

Erschöpft lege ich mich 16.30 Uhr ins Bett – und schlafe tief und fest ein

Eine wichtige Erkenntnis

Ich wache gegen 19 Uhr auf, erholt, etwas zerknautscht, hier und da noch ein wenig Sandmännchenstaub in den Augen. Und stolpere noch ein wenig unbeholfen zum Abendessen. Der Besitzer der Unterkunft hat für alle gekocht – für mich sogar vegetarisch (und das verdammt lecker, ein ganzer Topf Leckerei aus Kartoffeln, Linsen und anderem Gemüse). Aurelio und ich sitzen gemeinsam mit vier Italienern im Speiseraum und unterhalten uns eher oberflächlich über die letzten Tage und unsere Erfahrungen.


Ich nutze heute meine letzten Minuten für ein Telefonat und einen Spaziergang durch das kleine Dorf. Und habe nach dem langen erholsamen Schlaf und einem hervorragenden Abendessen eine wichtige Erkenntnis für mich gewonnen. Obwohl sich die Entscheidung von Ivan sehr egoistisch und falsch angefühlt hat, ist es dennoch die für ihn richtige gewesen. Auch wenn die Gruppe dadurch aufgelöst wurde, sind wir einen großen und großartigen Teil des Weges gemeinsam gepilgert. Und vor wenigen Wochen habe ich für mich entschieden, den Jakobsweg allein zu pilgern. Nicht wissend, wem ich begegne, wer bleibt, wer geht. Also werde ich es schaffen, den Weg weiter zu pilgern. Ob allein oder in einer Gruppe, spielt dabei keine Rolle. Und wie die Zukunft zeigen wird, begegnet man sich eben doch zweimal im Leben (oder auch öfter 🙂 ). 21.30 Uhr – Zeit für’s Bett – morgen liegt ein weiter Weg vor mir. Gute Nacht!

Zusammenfassung Tag 11

Burgos – Tardajos – San Bol – Hontanas
Entfernung: 31 km
Gesamtstrecke: 313,4 km
Höhenmeter aufwärts: 385 m ; Höhenmeter abwärts: 382 m
minimale Höhe: 818 m ; maximale Höhe: 937 m
Dauer: 7h
Fazit des Tages:
„Es gibt keine entgültige Sicherheit, dass ein Mensch für immer und ewig in deinem Leben bleiben wird. Jeder von uns geht seinen eigenen, einzigartigen und besonderen Weg. Wir können nur hoffen und daran arbeiten, dass sich unsere gemeinsamen Wege so oft wie möglich kreuzen. Und wir den gemeinsamen Weg so zu etwas ganz Besonderem und Einzigartigem machen. Doch letztendlich müssen wir unseren eigenen Weg allein gehen.“

Published inJakobsweg - Camino Frances

2 Comments

  1. Chris Chris

    Der Weg von Burgos nach Hontanas ist aber auch anstrengend.
    Ich hatte dieses Jahr auf den letzten 4 Kilometern so hart zu käpfen, schmerzen im Fuß, sodass ich am nächsten Tag nicht weiter konnte. Frag mal was für ein Gehirnfick das gewesen ist.

    Ich mag dein Schreibstil. Danke fürs mitnehmen. Ich fühle alles!!

    • Lieber Chris,

      wow, vielen lieben Dank für dieses tolle Feedback. Ich freue mich sehr über solche Worte.
      Burgos – Hontanas war auf jeden Fall eine Herausforderung, gerade als inoffizieller Beginn der „mentalen Etappe“ und hat mir persönlich auch viel abverlangt. Und dennoch – die Herberge vor Ort war großartig, hervorragendes Essen – und der Tag hat mich viel gelehrt.
      Was den von dir besagten Hirnfick angeht – der hat mich auch noch oft erwischt auf dem Jakobsweg 🙂

      Liebe Grüße

      Felix

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